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Entscheiden im Covid-Nebel

Anfang 2020 kursieren schon zahlreiche Berichte über die mysteriöse Lungenkrankheit in China, aber in Deutschland wird Covid-19 vorerst nur bei einzelnen Reiserückkehrern festgestellt. Die Kommunen am Rhein sind ganz mit der Vorbereitung auf die Straßenfastnacht beschäftigt, als das Thema erstmals auch in Rheinland-Pfalz für Trubel sorgt: 120 aus der Volksrepublik evakuierte Deutsche werden übergangsweise in einer hermetisch abgeriegelten Kaserne in Germersheim einquartiert. Als das Quarantäne-Wohnheim aufgelöst wird, macht sich vorsichtiger Optimismus breit. „Da haben wir gedacht: Vielleicht war es das“, erinnert sich die damalige Mainzer Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD). „Aber ab Aschermittwoch war dann nichts mehr wie vorher.“

Weil sich die Pandemie nun auch in Deutschland in rasendem Tempo ausbreitet, müssen innerhalb kürzester Zeit weitreichende Entscheidungen getroffen werden – die Situation stellt nicht nur die Politik vor ungeahnte Herausforderungen. „Kein Virologe hätte gedacht, dass eine Pandemie in solchem Ausmaß auftreten würde“, räumt Bodo Plachter, Leiter des Instituts für Virologie an der Mainzer Universitätsmedizin, ein. Organisatorisch ist das Land nur unzureichend vorbereitet. „Anfangs haben wir unsere Meldungen an die Gesundheitsämter gefaxt“, berichtet der Wissenschaftler.

Plachter wird von der Landesregierung zu den Sitzungen hingezogen, bei denen über die jetzt nötigen Maßnahmen beraten wird. Die Politik habe in der Krise die Ansichten der Wissenschaft immer ernst genommen, würdigt er das Vorgehen des Landes. Der weitreichende Lockdown zu Beginn der Pandemie sei kaum zu vermeiden gewesen, solange kaum etwas über die Krankheit bekannt gewesen sei. Doch nicht die Virologen allein geben in der Krise die Richtung vor, auch andere Fachleute werden gehört, ihre Meinungen berücksichtigt. So steht Rheinland-Pfalz während der Pandemie beim Thema Schulschließungen eher auf der Bremse. Dem Druck anderer Länder muss sich die Regierung schließlich dennoch beugen.

„Die allerschwerste Entscheidung für mich war die Schließung der Altenheime. Die Rückmeldungen treiben mich immer noch um“, blickt Bätzing-Lichtenthäler zurück. „Aber wir hatten zu dem Zeitpunkt keine Masken, keine Tests, keine Hygienekonzepte, keine Impfung – und keine andere Wahl, um Leben zu retten.“

Das große Ziel der Landesregierung und aller Experten sei gewesen, Zustände wie in Norditalien zu verhindern, wo zeitweise das Gesundheitssystem kollabierte. Dafür hätten Kosten keine Rolle mehr gespielt. Und sie erlebt, wie später die Debatten um Lockerungen viel schwieriger verlaufen als die, auf denen Beschlüsse zum Lockdown getroffen wurden – denn nun ringen alle erdenklichen Interessensgruppen darum, ja nicht benachteiligt zu werden. Zwischen Krisensitzungen, Pressestatements und wöchentlichen Gesundheitsministerkonferenzen kommt immer wieder auch der Ministerin der Gedanke, wann denn der Ausnahmezustand einmal enden und wie lange eine Volkswirtschaft sich diese Pandemie überhaupt leisten könne. Knapp ein Jahr nach dem Beginn habe sich die Stimmung geändert: „In dem Moment, als es den Impfstoff gab, kam die Zuversicht, dass wir es packen werden.“

Fünf Jahre nach dem Ausbruch der Pandemie beobachtet auch Bätzing-Lichtenthäler, die inzwischen den Vorsitz der SPD-Landtagsfraktion übernommen hat, wie sehr die Pandemie und die damals ergriffenen Maßnahmen noch immer viele Menschen beschäftigen. „Es ist ein Riss durch die Gesellschaft gegangen, der noch nicht verheilt ist“, sagt sie. Im Rückblick sieht sie selbst manche Beschlüsse aus der Pandemiezeit kritisch: „Im Nachhinein denkst Du: Die Schließung der Spielplätze, das hätte nicht sein müssen.“

Der Virologe Plachter glaubt nicht, dass man den Erfolg der Pandemie-Politik verschiedener Länder wirklich vergleichen kann, da alle Entscheidungen immer auch negative Folgen hatten. Andere Staaten hätten weniger strikte Vorgaben gemacht, mehr auf Eigenverantwortung gesetzt. Dafür hätten sie beispielsweise mehr Todesopfer unter den Alten in Kauf genommen: „Es ist immer auch eine gesellschaftliche Frage, welche Maßnahmen und Risiken man bereit ist zu akzeptieren.“