Im Jahr 2021 flieht die junge Kurdin Runa mit ihrer Familie nach Belarus. Ihr Ziel ist die EU. Doch die Eiseskälte auf der beschwerlichen Route dorthin setzt ihrer Mutter so sehr zu, dass sie bald darauf in einem polnischen Krankenhaus stirbt. Gemeinsam mit ihrem Vater und ihren vier jüngeren Brüdern wird Runa in einem polnischen Flüchtlingslager untergebracht. Von hier aus protokolliert die preisgekrönte Regisseurin Agnieszka Zwiefka – bekannt für ihre einfühlsamen Porträts – in einer vom SWR mitverantworteten Produktion den weiteren Weg der Migranten. Arte zeigt die Doku “Eiskalte Grenze” am Mittwoch, 7. Juni, um 23.10 Uhr.
Während andere Flüchtlinge in einem geschlossenen Lager bleiben müssen, erhält die kurdische Familie eine Wohnung zugeteilt. “Dafür müssen wir dankbar sein”, sagt der Vater, der mit der schwierigen Situation nicht so wirklich zurechtkommt. “Wenn ich lesen und schreiben könnte”, erklärt er einem seiner lernunwilligen Söhne, “wäre ich nicht in dieser Lage”. Ein gesteigertes Interesse, dieses Defizit zu kompensieren, ist bei ihm nicht zu beobachten. Immerhin hat er Haareschneiden gelernt, doch sein Versuch, in Polen einen Job in einem Salon zu bekommen, scheitert: “Tut mir leid, das reicht nicht”, erklärt der zunächst überaus freundliche Besitzer des Friseursalons, nachdem der Vater einem der Kunden den Bart verhunzt hat.
“Eiskalte Grenze” Vater heillos überfordert
In einer friedlich anmutenden Szene planschen seine Jungs fröhlich im Meer. Man freut sich mit den Kindern, das Bild ist idyllisch. Erst als die Kamera Strandspaziergänger in warmen Mänteln zeigt, wird klar, dass es dickster Winter ist. Und schon weint einer der kleinen Jungs, weil ihm der Vater nicht erklärt hat, dass man in der klirrenden Kälte nicht einfach so im Meer badet. Mit seinen Pflichten als Erzieher ist dieser Mann heillos überfordert. “Ohne deine Frau”, sagt ihm eine Flüchtlingshelferin, “bist du wie ein Kind”.
Die Resilienz der 16-jährigen ist bewundernswert
Aus diesem Grund ist es kein Zufall, dass seine 16-jährige Tochter die Protagonistin ist, aus deren Sicht der Film erzählt wird. Runa geht zur Schule, lernt rasch Englisch und Polnisch und freundet sich mit gleichaltrigen Mädchen an. Amtliche Formulare, die über das Schicksal der Familie entscheiden, übersetzt Runa. In ihren jungen Jahren muss sie nicht nur den Verlust der Mutter verkraften. Als bei ihr ein Glaukom festgestellt wird, muss das Mädchen sich auch einer Augenoperation unterziehen. Bei all dem zeigt Runa eine bewundernswerte Resilienz. Ihr Traum ist es, Anwältin zu werden. Talent dazu hat sie. Auf dem Weg zur Ausländerbehörde, wo über ihr Bleiberecht entschieden werden soll, setzt sie ihrem ahnungslos wirkenden Vater auseinander, was er sagen soll und was er besser verschweigt.
Erzählrhythmus ist zu traumartig
Diese Geschichte erzählt der Film mit einem formalen Gestaltungswillen, der sich zuweilen etwas zu sehr in den Vordergrund drängt. Wenn die Kamera mit einer Drohne hoch über dem Wald schwebt, dann sehen die kristallartigen Muster der schneeweißen Bäume etwas zu schön aus – zumal dort unten ja Runas Mutter erfror. Von empfindsamer Musik unterlegt, mutet der Erzählrhythmus zuweilen traumartig entrückt an.
Mit “Eiskalte Grenze” inszenierte Agnieszka Zwiefka einen Hybrid zwischen dokumentarischer Beobachtung und inszenierter Geschichte. Wenn die Kamera in das Skizzenbuch der künstlerisch überaus begabten Runa blickt, geht der dokumentarische Blick stufenlos in eine fiktionale Gestaltung über. Den zeichnerischen Stil des Mädchens ästhetisch aufgreifend, entwickelte der polnische Künstler Marcin Podolec gemeinsam mit Yellow Tapir Films Animationen, die die Ängste der jungen Frau zum Ausdruck bringen. Zu sehen sind Bäume, die im Wald Menschen verschlingen, sowie ein verzweifeltes Mädchen, das auf der Flucht vor gesichtslosen Verfolgern in einen Abgrund zu stürzen droht.
Cartoons schießen über Ziel hinaus
Mit diesen Cartoons, deren visueller Stil auch ein wenig von Marjane Satrapis Schwarz-Weiß-Stil in “Persepolis” angelehnt ist, schießt der über weite Strecken anrührende Film allerdings auch etwas über das Ziel hinaus. So erzählt Agnieszka Zwiefka die Geschichte der jungen Migrantin Runa in einer Mischung aus wahrhaftiger Beobachtung und einer zuweilen schon forcierten emotionalen Überhöhung.
Nicht erwähnt wird zudem, dass die humanitäre Katastrophe, der Flüchtlinge 2021 an der Grenze zu Polen ausgesetzt waren, auch das Ergebnis einer politischen Strategie des belarussischen Regimes war. Als Transitland förderte Belarus die Einreise von Kurden und Syrern, die daraufhin nicht selten in eine aussichtslose Lage gerieten. Weder konnten sie legal in die EU einreisen noch nach Belarus zurückkehren, weil belarussische Grenzschützer sie mit Gewalt daran hinderten.
Erzählung ist lückenhaft
Runas Geschichte ist zweifellos ergreifend, doch Agnieszka Zwiefka erzählt ihr Schicksal nur lückenhaft. Als sympathische und intelligente Protagonistin erzeugt das Mädchen Mitgefühl. Das ist legitim. Doch ohne die Erwähnung jener politischen Hintergründe ihrer Flucht wirft der sehenswerte Film auch Fragen auf.