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Eins mit dem Vater

Jesus blickte in dunkle Abgründe – und erlebte eine Erleuchtung bis zur völligen Einheit mit Gott. Seine Biographie, vor allem seine Passion, kann man auch als mystischen Weg deuten

War Jesus ein Mystiker? Er hatte offenbar Kräfte und eine Ausstrahlung, die weit über das hinausgingen, was man je zuvor an einem Menschen wahrgenommen hatte. Wie er sich mit Gott identifizierte, empfanden die herrschenden religiösen Kreise seiner Zeit als gotteslästerlich. Für seine Anhänger war dies jedoch ein Hinweis dafür, dass Gott in diesem Menschen unvergleichlich gegenwärtig war.
Seine Biographie, vor allem seine Passion, kann man auch als mystischen Weg deuten – zumindest findet sich dort ein Grundmuster an mystischer Erfahrung.

Jesu Leben als mystischer Weg

Dieser „mystische Weg Jesu“ beginnt mit der Taufe des Johannes am Jordan. Jesus sieht den Himmel offen und hört eine Stimme, die ihn als „geliebten Sohn“ bezeichnet. Es lässt sich schwer sagen, ob aus Jesus in diesem Moment Gottes Sohn wurde, oder ob er sich hier seiner bereits vorhandenen Gottessohnschaft bewusst wurde. Die Taufe Jesu mit dem Zuspruch aus dem Himmel (Markus 1, 9-11) markiert jedenfalls eine Art Erwählung, wie sie jeder Mystiker empfindet, wenn er sich auf den Weg begibt.
Dem erleuchtenden Moment des Anfangs folgt die Phase der tiefen Krise: „Und alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste hinaus“ (Markus 1, 12-13). 40 Tage und Nächte wird Jesus vom Teufel versucht. Dieser Gang in das Dunkel, in die Nacht – verbunden mit Askese – ist für Mystiker ein oft begangener Weg, um tiefere Erkenntnisse zu gewinnen. Jesus hat mit großer Wahrscheinlichkeit durch intensives Fasten Dinge erlebt, die man auch als bewusstseinserweiternde mystische Erfahrungen bezeichnen kann. Er begegnet dem Teufel, das heißt, er blickt in seine tiefsten Abgründe. Für den weiteren Weg ist wichtig: Er verdrängt oder bekämpft diese Abgründe nicht, sondern setzt sich mit ihnen auseinander. Das Dunkel ist da – und auch das Licht, die Engel Gottes, die ihm dienen.

Bewusstseinserweiterung durch Fasten

Nach der geisterfüllten Taufe und der dunklen Nacht machte Jesus eine weitere Entwicklung durch. Er kehrte aus der Wüste zurück mit einer tiefen Nähe zu Gott, die auf alle überstrahlte. Jesus wurde aktiv, er wandte sich der Welt zu. Er verkündigte das nahe Reich Gottes, heilte Lahme und Blinde, trieb Dämonen aus und weckte Tote auf – mit großem Selbstbewusstsein, mit Vollmacht, mit Kraft.
Weltabgewandtheit und Weltflucht, die großen Versuchungen mystischer Spiritualität, waren Jesu Sache nicht. Im Gegenteil: Seine ganze Liebe richtete sich auf den Menschen und die Schöpfung. Auch in dieser Beziehung war Jesus unmittelbar und authentisch. Theologisch gesagt: ohne Sünde.
Im Johannesevangelium wird Jesu mystischer Weg oft mit der Metapher des „Sehens“ umschrieben. Dieses Sehen Gottes geschieht in den Himmelsreisen, die das Johannesevangelium andeutet, wenn es Jesus sagen lässt: „Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruhte, er hat Kunde gebracht“ (1, 18). Und weiter: „Und niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist: der Menschensohn“ (3, 13).
Gott nannte Jesus Vater. Er hatte eine tiefe Beziehung zu diesem Vater – offenbar so stark, dass er auch starke Worte dafür verwenden konnte: „Der Vater und ich sind eins“ (Johannes 10, 30). In diesem Wort bringt Jesus kurz und prägnant die unio mystica, die Einheit von sich als Mensch und Gott dem Vater zum Ausdruck.
Man kann sich vorstellen, dass die Aussagen Jesu bei der damals herrschenden religiösen Klasse für Entrüstung gesorgt haben. Die Bedeutung von Jesu Anrede Gottes als Vater geht aber noch tiefer: Gott ist der Vater aller Menschen, alle sind Söhne und Töchter Gottes und haben die Möglichkeit, seine Erfahrung der Nähe und der Verbindung mit Gott zu teilen.

Alle Menschen dürfen „Vater“ sagen

Die Rede von Jesus als „Sohn Gottes“ führte schließlich zum christologischen Dogma der Zweinaturenlehre: Jesus Christus als wahrer Gott und wahrer Mensch, „in zwei Naturen unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt“, wie im Glaubensbekenntnis von Chalcedon im Jahr 451 formuliert wurde. Diese altkirchlichen Aussagen lassen sich nicht in rationale Logik übersetzen, sind aber der mystischen Erfahrung zugänglich.
Entfaltet wird die mystische Einheit Jesu auch im sogenannten „hohepriesterlichen Gebet“ in Johannes 17, 10-23: „Und alles, was mein ist, das ist dein, und was dein ist, das ist mein; und ich bin in ihnen verherrlicht. Und ich bin nicht mehr in der Welt; sie aber sind in der Welt, und ich komme zu dir.“ Die Perikope von der Verklärung (Matthäus 17) kann man als Beleg sehen, dass Jesus auch seine Jünger in die Geheimnisse der Mystik eingeführt hat.

Das Leid als Teil des mystischen Weges

Das Ringen mit dem Teufel, das Leiden, die Kreuzigung und der Tod, der Gang durch die Hölle und die Auferstehung sind integraler Teil des mystischen Weges. Jesus hat die Abgründe nicht beschrieben, er hat sie nicht nur kontemplativ durchlaufen, sondern auch körperlich erfahren – bis zum Tod am Kreuz.
War Jesus ein Mystiker? Er war so wenig Mystiker, wie er Christ war. Er war mehr als ein Mystiker, weil er immer mit Gott eins war.