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Eine “Gute Stunde” für alte Menschen – Solo-Twist im Wohnzimmer

Solo-Twist im Wohnzimmer, mit über 80 Jahren: Das Online-Programm “Gute Stunde” macht es seit fünf Jahren möglich. Ältere Menschen erleben live Konzerte, Theater oder Krimilesungen – und werden zum Mitmachen angeregt.

Manchmal bekommt sie kurz vor der Online-Schalte noch einen Anruf: “Frau Lemme, ich komm’ nicht rein. Was soll ich machen?”, ruft dann etwa eine ältere Dame aufgeregt ins Telefon. Dorothea Lemme, 43 Jahre alt, blondgelockt und freundlich, erklärt dann nochmal, auf welchen Button jetzt geklickt werden muss, damit es klappt mit der Teilnahme an der “Guten Stunde” via Zoom.

Vor fünf Jahren wurde das gemeinnützige Projekt der humaQ gGmbH, das mehrfach ausgezeichnet wurde, von fünf Menschen gegründet, die seitdem alle größtenteils ehrenamtlich dabei sind. Mehr als 100 Veranstaltungen haben sie bisher auf die Beine gestellt. Die Teilnahme ist kostenlos. Ein Leitfaden im Netz erklärt, wie die Registrierung funktioniert – aber bei technischen Problemen kann auch mal direkt angerufen werden. Jede Sitzung wird seitens der Projektgründer moderiert.

Die fünf: Das sind Dorothea Lemme, Charlotta Bjelfvenstam, Anna Barth, Torsten Anstädt und Maria Urban. Es war Corona, damals im Jahr 2020; Künstler konnten nicht arbeiten und verdienten nichts. Alte Menschen waren oft allein und isoliert zu Hause oder im Pflegeheim. “Gegen beides wollten wir etwas tun”, sagt Lemme, die das Projekt leitet. Es bietet etwa alle zwei Wochen eine exklusive kulturelle Online-Veranstaltung für ältere oder nicht so mobile Menschen an. “In vielen anderen Ländern werden ältere Menschen ganz anders geachtet. Es geht uns auch darum, am Altersbild hierzulande etwas zu ändern”, so Lemme.

Die “Gäste” der “Guten Stunde”, so nennen die Projektmitarbeiter sie, sind zum großen Teil zwischen 70 bis 90 Jahren alt. An jeder Veranstaltung nehmen im Durchschnitt etwa 30 Menschen teil, darunter viele Stammgäste, die immer wieder mitmachen. Sie kommen aus ganz Deutschland, aber es gibt auch Teilnehmer in Brasilien und Schweden.

Über die Kultur seien ältere Menschen auch fürs Digitale zu motivieren: “Ich fand es toll, die Technik zu lernen und auf diesem Weg Anschluss an Kultur und Menschen zu bekommen”, sagt etwa Brigitte Barkhausen-Sack aus Wiesbaden. Und eine Dame aus Erlangen erzählt, sie habe bei einer übertragenen Chorprobe “lautstark mitgesungen. Es hat mir so viel Spaß gemacht. Die Stimmlage war altersgerecht, nicht so hoch. Alles super.”

Charlotta Bjelfvenstam, im bezahlten Berufsleben eigentlich Schauspielerin, hat die künstlerische Leitung der Veranstaltungen. Sie sagt: “Es soll keine perfekte TV-Sendung sein. Der Dialog zwischen Künstlern und Teilnehmern ist unser Hauptfokus. Wir wollen nahbar sein.” Da dies nicht unbedingt jedem Künstler liege, würden sie entsprechend ausgewählt. “Und wir briefen sie natürlich vorher – dass sie zum Beispiel langsam sprechen müssen.” Viele Guten Stunden werden auch von Kulturgeragogen gestaltet – das sind Kulturschaffende, die eine spezielle Ausbildung haben, älteren Menschen Kunst und Kultur nahe zu bringen.

Bei der interaktiven Krimilesung “Dürermord”, eine der letzten Veranstaltungen, durften die Zuschauer zum Beispiel nachher einen Tipp abgeben, wen sie für den Mörder halten. Oder die Musikveranstaltung, bei der zu “Let’s twist again” einige der Teilnehmer vor dem Bildschirm abrockten.

“Da haben Damen, die sonst ganz passiv sind und von denen wir das gar nicht erwartet hätten, in ihrem Wohnzimmer vor der Kamera mitgetwistet”, erzählt Torsten Anstädt, der einzige Mann in der Runde. “Es geht uns auch um Aktivierung.” In einem Wiesbadener Pflegeheim hat der Quartiersentwickler, der die Gute Stunde als Geschäftsführer verantwortet, damals das Pilotprojekt gestartet. Bis heute können neben interessierten Einzelpersonen auch Senioreneinrichtungen kostenlos teilnehmen. Von letzteren wird ein freiwilliger Teilnahmebeitrag erbeten.

Die Künstler müssen bezahlt werden, was durch Spenden und kleinere Förderungen funktioniert. Die Finanzierung zu sichern sei nicht immer einfach, sagt Anstädt. “Aber wir wollen niemanden ausschließen, indem wir Beiträge erheben. Manche unserer Teilnehmer können sich das einfach nicht leisten.”

Es gibt Programm, das eigens Menschen mit Demenz ansprechen soll, anspruchsvolle Lyriklesungen und auch eine “Werkstatt”: Hier fertigen die Teilnehmer unter Online-Anleitung etwa Collagen aus Papier und Zeitschriften – die Ergebnisse werden in einer eigenen Online-Ausstellung gezeigt. Für einem Knetworkshop haben die Ehrenamtler an die Teilnehmer im Vorfeld auch schonmal eigenhändig Knete verschickt. “Am gemeinsamen Mitsingen arbeiten wir noch – das muss jeder bisher mit geschlossenem Mikro machen, sonst gibt es eine Kakophonie”, sagt Lemme.

Etwa 20 Stunden die Woche investieren die fünf – alles unentgeltlich. Woher kommt diese Motivation? “Ich finde es bereichernd, zu sehen, wie glücklich und zufrieden diese Menschen sind”, findet etwa Sozialwirtin Anna Barth, die “das Finanzielle” des Projekts managt. Schauspielerin Bjelvfenstam ergänzt: “Mir macht das einfach Spaß. Ich liebe Kultur – sie verbindet unterschiedliche Menschen miteinander.”

Maria Urban, die bei der “Guten Stunde” für Social Media zuständig ist und vor allem die technische Seite verantwortet, sagt: “Ich mag alte Menschen. Von ihnen kann man viel lernen.” Eine Lebenshaltung, die sie bald auch in ihrem Privatleben umsetzen wird: Die 38-Jährige zieht zurück aus Berlin in ihre Heimat Thüringen, in ein 200-Seelen-Dorf, um sich um die alten Großeltern kümmern zu können.