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Ein Trauma ist mehr als ein Modewort – und bleibt oft unentdeckt

Bombenhagel, Vergewaltigung, Kontrollverlust: Wer nach solchen Ereignissen nicht ins Leben zurückfindet, braucht keine Floskeln. Echte Traumafolgestörungen bleiben jedoch oft unerkannt. Ein Psychiater möchte das ändern.

Für Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten gibt es inzwischen regelmäßige Screenings. Doch viele Menschen mit Traumafolgestörungen fallen weiterhin durchs Raster: Davor warnt der Psychiater Frank Schneider. Etwa die Holocaust-Überlebende, die Jahrzehnte später über sich sagt: “Ich bin kein Mensch mehr”. Oder die junge Frau, die erst mit über 20 Jahren erlebt und begreift, dass körperliche Nähe nicht mit Gewalt verbunden sein muss: Frank Schneider beschreibt in “Das erschütterte Ich” bestürzende Lebenswege.

In Jahrzehnten als Psychiater und Psychologe, als Arzt, Therapeut und Wissenschaftler hat Schneider auch diesen beiden Frauen geholfen. Und in den vergangenen Jahrzehnten habe sich vieles in eine gute Richtung entwickelt, sagt er: Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es nicht einmal Begriffe wie Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) gegeben; die entsprechenden Symptome habe man meist nicht als behandlungsbedürftig eingestuft.

Heute dagegen sprechen alle vom Trauma, das häufig in banalen Zusammenhängen, wenn etwa der Chef oder die Freundin unfreundlich reagiert hat. Schneider spricht von einer “Trauma-Welle”, die ihm durchaus “auf den Keks” gehe. Für ihn ein Anstoß, in seinem Buch, das jetzt erscheint, unterschiedliche Formen, Ursachen, Verläufe von PTBS zu schildern; zudem erklärt der Experte auch Fachbegriffe und nennt Möglichkeiten zur Behandlung.

Trotz aller #mentalhealth-Trends in Sozialen Medien, trotz verbreitetem pop-psychologischem Wissen: “Viele Betroffene von PTBS haben keinen Krankheitsbegriff für das, was sie erleben – und kommen nicht zu der Therapie, die sie bräuchten”, erklärt Schneider. Mit einer passenden Behandlung könnten sie jedoch wieder gesund werden.

Umgekehrt gehen viele Menschen von Missverständnissen aus: die befreiten israelischen Geiseln etwa, müssten die nicht alle traumatisiert sein? Rein statistisch werden nach Schneiders Prognose etwa 20 Prozent von ihnen an einer Traumafolgestörung leiden. “Es gibt keinen Trauma-Gradienten”, betont er. Man könne also nicht sagen: Je schlimmer eine Erfahrung, desto heftiger die PTBS. In Deutschland sind etwa zwei bis drei Prozent der Menschen von dieser Erkrankung betroffen, unter Kriegsüberlebenden sind es mehr, etwa im Sudan an die Hälfte der Bevölkerung.

Ein enges soziales Netz ist der wichtigste Schutzfaktor: “Nach einer existenziellen Erfahrung ist es eine gute Idee, mit jemandem zu sprechen”, sagt der Psychiater. “Das muss aber zunächst keine professionelle Hilfe sein. Die eigenen Eltern oder ein guter Freund sind ebenso gut – nur schweigen ist schlecht.” Sogenannte Debriefings, also strukturierte Nachbesprechungen etwa von Unfällen oder Naturkatastrophen, könnten dagegen dazu führen, dass sich das Erlebte erst Recht im Gedächtnis des Opfers festsetze.

Erzwungene Frühinterventionen hätten tendenziell negative Effekte, sagt auch Psychotherapeutin Miriam Biermann. “Der aktuelle Ansatz lautet: watch an wait”. Dabei gebe es idealerweise regelmäßig Kontakt zu den Betroffenen sowie Informationen über Beratungsangebote: “Wenn alles ok ist, wunderbar – wenn es sich ändert, wissen die Menschen, an wen sie sich wenden können.” Eine Mehrheit erhole sich nach schlimmen Erlebnissen von selbst. Ein Trauma kann also – muss aber nicht – entstehen, wenn jemand von einem unerwarteten, bedrohlichen Ereignis betroffen ist.

Ein klassisches Symptom ist das unkontrollierbare Wiedererleben dieser vergangenen Realität (“Flashbacks”), das häufig durch äußere Reize ausgelöst wird, etwa einen Geruch. Betroffene leiden in der Regel an sogenannter Hypervigilanz und an Hyperarousal, schwitzen also scheinbar aus dem Nichts heraus, sind fahrig und angespannt, Blutdruck und Puls steigen an. Nach dem Ersten Weltkrieg sprach man von “Kriegszitterern”, daran erinnert Schneider. Erkrankte mieden zudem Situationen, die mit dem ursprünglichen Ereignis verbunden sind.

Wer etwa einen Monat nach einer potenziell traumatischen Erfahrung solche Reaktionen an sich beobachte, für den seien ein psychologischer Psychotherapeut, eine Fachärztin für Psychiatrie oder Psychosomatik die richtige Adresse, sagt Schneider. Das eigene Umfeld oder die Hausärztin könne bei der Suche nach jemandem helfen, der sich auskenne, und “natürlich auch jemanden in den Arm nehmen und signalisieren: Ich bin da”. Mit “blöden Ratschlägen” sei dagegen Zurückhaltung geboten. Und: “Ganz wichtig ist, dass eine Traumatherapie leitlinienorientiert, also wissenschaftlich fundiert erfolgt.”

Allerdings kann es Jahre dauern, bis sich die Folgen von traumatischen Erfahrungen zeigen, sagt Biermann. Dass etwas geschehen muss, darüber besteht in der Fachwelt Einigkeit: Weltweit leiden laut der Klinischen Psychologin Maggie Schauer über zwei Milliarden Menschen unter traumatischem Stress. Zugleich werde Traumatherapie vielfach als Luxus betrachtet, kritisierte sie in der Zeitschrift “Psychologie Heute”. Schneider beobachtet wachsendes Verständnis für die Thematik in der Bevölkerung – doch auch Nachholbedarf, denn noch immer gebe es “Krankheiten, die in der Öffentlichkeit stehen, die kann man haben – und andere, die kann man weiterhin nicht haben”.