Ob er denn wohl von den seit langem üblichen 14 Arbeitsstunden täglich herunter könne, fragt der behandelnde Internist einen leitenden Angestellten. Der lächelt resigniert: „Sicher, Herr Doktor, das ginge schon, aber was soll ich dann tun mit der Zeit?“ Manche Geschichte wirkt konstruiert erfunden, diese ist real. Bedenkt man zudem, dass dieses Gespräch wenige Tage nach einem überlebten Herzinfarkt stattfindet, drängt sich gleichsam automatisch die Frage auf, womit eigentlich dieser Patient seine Tage verbracht hat. Offenbar ist sie hier ziemlich gestört, die sogenannte Work-Life-Balance.
Der nächste Herzinfarkt ist nur eine Frage der Zeit
Was hilft es, wenn ich die ganze Welt gewönne, aber Schaden nähme an meiner Seele? Worte im Neuen Testament lesen sich heute wie ein Kommentar zur Life-Balance. Denn ohne eine Antwort auf die Frage nach Sinn in meinem Leben lässt sich auch über ein gelingendes Verhältnis von Leben und Arbeit kaum verhandeln. Dann bleibt es eben bei den 14 Arbeitsstunden täglich – und der nächste Herzinfarkt ist eine Frage der Zeit.
Die oft gehörte Rede von einer Work-Life-Balance geht von falschen Annahmen aus: von der gleichsam naturgegebenen Zweiteilung des Individuums in Beruf und Freizeit.
Was der Einzelne stetig neu entscheiden muss – die Frage: Wie wichtig ist der Faktor Beruf jetzt und heute in meinem Leben? – wird hier bereits postuliert. Die Arbeit tritt gleichsam als existenzieller Sonderbereich in Konkurrenz zum sonstigen Lebensvollzug, der neben dem Beruf seinen Platz erst erobern muss.
Eben dieser scheinbar nicht verhandelbare, sondern als exklusiv gefühlte Stellenwert der Arbeit im Lebensverlauf führt aber nicht selten in einen Burnout, wenn sich der Betroffene eines Tages mangels anderer Selbstwert-Erfahrungen einseitig und ausschließlich über den Beruf definiert.
Welche Work-Life-Balance soll man etwa einem Frühruheständler anbieten, der sich nicht mehr gebraucht fühlt, weil sich der Faktor Arbeit aus seinem Leben endgültig verabschiedet hat? Oder einem langfristig Arbeitssuchenden ohne realistische Perspektive auf erneute Integration in ein berufliches Umfeld? Mit einer heute wachsenden Verbreitung biografischer Engpässe sind Gratifikationskrisen und Selbstwertkonflikte programmiert, sobald das berufliche Gefragtsein womöglich über lange Zeit auf sich warten lässt.
Man sollte besser eine generelle Balance im Leben suchen, die ich mit mir selbst und anderen stets neu aushandeln muss, um den Faktor Arbeit jeweils in gebührende Grenzen zu weisen. Nur im Rahmen einer Lebensperspektive, die den beruflichen Aspekt relativieren kann, werden andere Bereiche als Kompensationsfelder erschlossen – die Arbeit dann nicht ersetzen können, den eigenen Selbstwert aber anderweitig realisieren.
Demgegenüber wurde der viel zitierte Burnout längst zu einer drohenden Normalität, die nur zuweilen in manifeste Depression mündet – und dann erst sozial auffällig wird. Das zur Krankschreibung führende Syndrom bietet heute die Chance auf eine Flucht vor den Zumutungen der Leistungsgesellschaft.
Solange das Syndrom allerdings als eine Erscheinung des Berufslebens definiert bleibt und ungünstige Arbeitsbedingungen weiterhin einseitig im Fokus der Betrachtung stehen, ist der persönliche Anteil weitgehend entlastet. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat Burnout längst schon eine wachsende Bekenntnisliteratur hervorgebracht: Prominente outen sich. Dabei wird alles Mögliche als Burnout gehandelt, Therapieangebote wurden zum Konsumfaktor, die Wellness-Klinik liegt im Trend. Als sozial anerkannter Abweichler von der Norm – infolge übermäßiger Leistungsbereitschaft – bin ich zwar am Ende womöglich ausgebrannt, aber nicht mehr selber mein eigenes Problem.