Nie fühlte er sich der israelischen Gesellschaft zugehöriger als nach dem Hamas-Angriff. Nie war sie ihm fremder als heute. Der deutsche Theologe Bertil Langenohl in Tel Aviv erklärt die Folgen des “Schwarzen Schabbats”.
“Ich höre von Raketen aus Gaza an vielen Stellen des Landes. Gab es auch ein Eindringen von Dschihad-Kämpfern?” Mit dieser Frage, die er am Morgen des 7. Oktober 2023 per WhatsApp von Jericho aus an seine Frau schickte, beginnt das neue Buch von Bertil Langenohl. Es endet mit einem Zitat von Dietrich Bonhoeffer: “Es gibt keinen Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Der Frieden muss gewagt werden.”
Die beiden Zitate machen die Spannweite der Texte aus fast zwei Jahren deutlich, die der Verfasser dort versammelt hat. Sie reichen von persönlichen Gedanken im Laufe des Krieges über politische Analysen bis hin zu (offenen) Briefen, Interviews und theologischen Erwägungen.
Es ist überzeugend, wenn der aus Deutschland stammende Autor, der seit 15 Jahren in Israel lebt, angesichts des Vernichtungswillens der Hamas-Terroristen auf der Singularität und “neuen Qualität” des Massakers vom 7. Oktober besteht und deshalb jede vorschnelle “Kontextualisierung” durch Hinweis auf dessen “Vorgeschichte” ablehnt – gerade weil er schon vorher zu den Kritikern der Politik Israels gegenüber den Palästinensern gehört hat.
Es ist zugleich beeindruckend, wie er von Anfang an auch das Leid der Zivilbevölkerung des Gazastreifens im Zusammenhang mit dem israelischen Gegenschlag im Auge hat und so eine in Israel nicht selbstverständliche Balance wahrt. So wird er folgerichtig auch zum immer schärferen Kritiker des israelischen Kriegs gegen Gaza, dem jede Verhältnismäßigkeit und jedes realistische Ziel abhandengekommen sind.
Die Besonderheit des Buches besteht aber nicht zuletzt darin, dass hier ein (katholischer) Theologe in Israel schreibt und argumentiert. Als solcher steht er in der Tradition der Politischen Theologie seiner Lehrer an der Universität Münster, Johann Baptist Metz und Tiemo Rainer Peters, und zeigt, wie sich eine solche auch in diesem Fall bewähren kann.
Er befragt von diesem Standpunkt aus kritisch nicht nur die Berichterstattung in den Medien, sondern auch die Positionierungen und Stellungnahmen der Kirchen im Heiligen Land und in Deutschland. Und zugleich fordert er auf theologischer Grundlage einen Übergang vom ethnischen zum ethischen Zionismus; er skizziert die Notwendigkeit einer “Ethik der Aufmerksamkeit”, die für alle Menschen, gleich welcher religiösen oder nationalen Identität, gilt.
Konkret klingt das so: “Die Hoffnung auf mein eigenes Heil und meine Erlösung, der Glaube an meine eigene Auferstehung, wenn er denn nicht bloßer Narzissmus (sein will), rechtfertigt sich nur im Blick auf die erhoffte Rettung der anderen. (…) Unsere Hoffnung auf Frieden in Freiheit und Sicherheit, die am 7. Oktober gestorben ist, wird neu geweckt nur werden, wenn und indem wir den Palästinensern Grund zur Hoffnung geben auf Recht und Gerechtigkeit auch für sie. Ihre Hoffnung ist der Maßstab zukünftigen Glücks aller Menschen im dann vielleicht Heiligen Land.”
In einem Resümee aus zwölf Thesen fasst Langenohl zusammen, was seine Sichtweise auch für den Staat Israel bedeutet: So wie die Ereignisse des “Schwarzen Schabbats” weder philosophisch rationalisiert noch religiös mystifiziert und zum Mythos werden dürfen, darf auch der Staat Israel nicht mit Hilfe eines messianischen Zionismus zu einer mythischen Größe gemacht werden, der gegenüber nur ergebenes Schweigen angemessen ist. Dieses Buch zeigt, wie eine kritische Theologie dazu beitragen kann, das zu verhindern.
Die Texte sind keine “leichte Kost”. Dennoch sind die differenzierten und reflektierten Gedanken des Autors wohltuend und ausgesprochen lesenswert angesichts eines Diskurses, der so oft von Einseitigkeiten oder Doppelmoral gekennzeichnet ist – selbst wenn man an einzelnen Stellen widersprechen oder besser: in ein Gespräch mit dem Autor eintreten möchte. Denn gerade dazu kann das Buch einen wichtigen Beitrag leisten: das Gespräch (wieder) aufnehmen und vertiefen in einer Situation, die vielfach von Sprachlosigkeit oder vorschnellen Urteilen geprägt ist.