Losungen für Kirchentage sind Einladungen zum Gespräch über Gott und die Welt. „Du siehst mich“ greift etwas auf, mit dem der Protestantismus sonst weniger identifiziert wird – das Visuelle. In der Bibel ist Sehen immer mehr als Gucken, Glotzen, Herrumschauen. Sehen ist mehrdimensional und hat eine besondere Qualität.
Eine erstaunliche Geschichte
Der Kontext dieser Losung ist die Geschichte der Sklavin Hagar, die erst als Leihmutter herhalten muss und dann von ihrer Herrin so gedemütigt wird, dass sie in die Wüste, den Raum des Todes, flieht.
Im Kern der Erzählung entwickelt sich Erstaunliches: An einer Wasserquelle in der Wüste trifft Hagar einen Engel, der ihr eine doppelte Verheißung mit auf den Weg gibt: Ihre Nachkommen werden zahlreich sein, und ihr Sohn Ismael wird seinen Brüdern trotzen und als freier Mensch im Land wohnen. Zu diesem Engel sagt Hagar: „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (Genesis 16,13).
Gottes Sehen meint ein Anerkennen
Zwei Dinge fallen auf. Erstens: Hagar selbst ist es, die Gott einen Namen gibt, der ihr eigenes Leben umwertet: In diesem Moment ist sie mehr als eine rechtlose Frau. Von Gott gesehen, eröffnen sich ihr neue Lebensmöglichkeiten und Handlungsfreiheiten. Von Gott angesehen zu werden, begründet die Würde des Menschen als Gottes Geschöpf. Gottes Sehen meint ein Anerkennen und Retten.
Zweitens: Hagar bekommt als rechtlose Frau eine Verheißung, die in der Bibel sonst nur Männern zugesprochen wird: zahlreiche Nachkommen. Das biblische Denken in Generationen ist ein Synonym für das Leben selbst. Verheißungen sind Potenziale der Zuwendung Gottes, Lebensmöglichkeiten, die Menschen ausschöpfen sollen und können. Gott verheißt der verzweifelten Hagar und ihrem Sohn eine gute Zukunft, die zwar voller Konflikte sein wird, aber ein Leben in Freiheit bedeutet.
Angesehen zu sein, wahrgenommen zu werden. Diese Sehnsucht ist groß. Heute schicken viele Menschen dafür permanent Bilder von sich selbst in die Welt: per Selfie, Facebook und WhatsApp. Doch wirklich gemeint zu sein – das geht tiefer. Wirklich angesehen fühlen wir uns erst, wenn ein anderer Mensch zuhört, sich zuwendet.
Die Wurzel des interreligiösen Dialogs
Sehen stiftet Beziehung, nicht nur mit Gott, sondern auch im Miteinander aller Menschen. Ansehen bedeutet Anerkennen und Wertschätzen. Wegsehen ist Missachtung und Ignoranz. Allein das Hinsehen und Wahrnehmen der vielen nach Europa Flüchtenden hat in unserem Land etwas verändert.
Spannend an der Losung ist auch: Die Geschichte von Hagar ist im Neuen Testament aufgegriffen worden. Die Geschichte Ismaels, ihres Sohnes, im Koran. Die Verbindung zu Abraham ist eine der stärksten Wurzeln für einen interreligiösen Dialog zwischen Judentum, Christentum und Islam. Auch davon wird auf dem Kirchentag 2017 in der EKBO viel zu hören sein.