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“Dschungelkind” Sabine Kuegler – Verloren in westlicher Kultur

Sabine Kuegler lebte als Kind im Dschungel, als Erwachsene suchte sie dort Heilung – und fand zudem eine neue Sicht auf den Westen. Auch wenn sie in Europa zunächst panische Angst überkam.

Sabine Kuegler wurde mit einem Millionen-Bestseller als “Dschungelkind” bekannt; mit ihren Eltern und Geschwistern ist sie beim Stamm der Fayu im Regenwald von Westneuginea aufgewachsen. Mit 17 Jahren ging sie in die Schweiz, heute lebt sie in Hamburg. In ihrem zweiten Buch “Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind”, verarbeitet Kuegler (52) ihre Zerrissenheit zwischen den Kulturen. Die erweiterte Sonderausgabe erschien Ende 2024. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht sie über Freiheit, Verlorenheit und die Liebe zur Natur.

Ich bin mit 17 nach Europa gegangen und seitdem mehrmals zurückgekehrt, um die Fayu zu besuchen. Wahrscheinlich habe ich mir bei einer dieser Reisen einen unbekannten Parasiten eingefangen. Über Jahre wurde ich dann kränker und kränker; irgendwann hat man mir gesagt, man könne nichts mehr für mich tun. Da kam ich auf die Idee, dass ich vielleicht ein Heilmittel bei den Stämmen finden könnte. Und so kam es auch. Aber die Suche hat viel länger gedauert, als ich dachte.

Ja. Ich habe mich in Deutschland komplett durchchecken lassen, für mein Alter bin ich erstaunlich gesund.

Als es Zeit war zurückzukehren, bekam ich panische Angst. Ich hatte das Gefühl, ich werde in Europa sterben – weil meine Jahre davor im Westen ein einziger Überlebenskampf waren. Das hielt aber nur einige Wochen, meine Kinder und ich lachen heute darüber.

Ich bin dort eins geworden mit der Natur – das ist aber auch gefährlich. Es war so, als ob ich Wurzeln bekomme, die mich immer stärker festhielten. Ich gab mich dabei ein Stück weit auf, irgendwann verlor ich meine Identität.

Ja. Wenn Sie von heute auf morgen in einem Stamm leben sollten, von dem Sie überhaupt nichts verstehen, wären Sie komplett verloren – so, wie ich damals in der westlichen Welt. Als Erwachsene wurde mir zurück in der Welt meiner Kindheit bewusst, dass wir mit einer ganz anderen Kultur und Kommunikation aufgewachsen waren. Das hat mir geholfen, die Missverständnisse und meine Schwierigkeiten zu verstehen. Ich kann jetzt auch das Gute an der westlichen Kultur sehen.

Wir sind hier viel freier. Das geht einher damit, dass wir für uns selbst verantwortlich sind. Ich bin in einer Kultur aufgewachsen, in der der Einzelne keine Verantwortung trägt, alles wird in der Gemeinschaft entschieden. In Deutschland hingegen lernen schon Kleinkinder, eigene Entscheidungen zu treffen.

Ich habe mich gefragt, was mich im Stamm geborgen fühlen lässt. Es sind die Menschen, von denen ich umgeben bin. Menschen, die mir Gutes wollen, die mich schützen. Im Dschungel war diese Gemeinschaft automatisch da, hier hatte ich nie gelernt, mir so einen Kreis bewusst aufzubauen. In der Vergangenheit stand ich plötzlich allein da, wenn bei mir Sachen schiefliefen, obwohl ich anderen so viel geholfen hatte. Das konnte ich nicht begreifen. Inzwischen weiß ich, wie wichtig es ist, sich seinen eigenen Mini-Stamm aufzubauen.

Außerdem habe ich gelernt, dass ich in der westlichen Welt im Gegensatz zum Dschungel sichtbar sein muss. Früher habe ich versucht, mich zu 100 Prozent anzupassen, weil das bei den Stämmen überlebenswichtig ist. Das mache ich nicht mehr, ich stehe besser für mich ein.

Als wir bei den Fayu gelebt haben, schwammen wir eines Tages in einem Fluss, um uns abzukühlen. Die Fayu sahen unserer Familie zu und als mein Vater sie fragte, warum sie nicht auch ins Wasser kommen, haben sie gesagt, dass das doch der Krokodilfluss sei. Wir sind sofort aus dem Wasser und haben gefragt, warum sie uns nicht gewarnt haben. Die Antwort war: Jeder weiß doch, dass das der Fluss ist, in dem wir Krokodile jagen.

Und dieser Satz: “Das weiß doch jeder” war für mich im Westen eine Qual, weil ich ihn immer wieder gehört habe. Ich kam ständig in schwierige Situationen, weil mich keiner gewarnt hatte. Dann hieß es immer: Das weiß doch jedes Kind, dass das so und so abläuft.

Ich glaube, viele Ausländer haben damit zu kämpfen, dass wir automatisch davon ausgehen, dass sie wissen, wie man sich zu verhalten hat. Es wäre gut, wenn wir ihnen die deutsche Kultur besser erklären. Wie denken Deutsche, was sind ihre Werte, was darf man hier und was nicht? Kulturelle Bildung würde vieles einfacher machen.

Zu den Umemus gibt es verschiedene Theorien. Eine besagt, dass es Menschen sind, die sich evolutionär dem Leben in einer Höhle angepasst haben. Man bräuchte DNA-Tests, um es genau zu wissen.

Er war klein wie ein Kind, hatte überlange Arme und Beine. Haare und Nägel waren lang, er war sehr dreckig und roch sumpfig. Er hatte sehr wilde, runde, schwarze Augen und ein wunderschönes Gesicht.

Ja, es gibt immer noch Teile der Welt, die nicht erforscht sind und Stämme, die noch unentdeckt sind. Aber leider werden es immer weniger, und auch die Umemus sind vom schnellen Aussterben bedroht. Mein Ziel ist es, diese unerforschten Gebiete unter Schutz zu stellen, damit die Menschen und die Natur dort weiter unberührt bleiben.

Sehr gut. Sie sind der bestgeschützte Stamm, weil sie zu bekannt sind, als dass sich einer auf ihr Land wagt.

Meiner Meinung nach könnten wir hier im Westen absolut fantastisch leben. Wenn wir anfangen würden, besser miteinander umzugehen, wären wir zufriedener. Es heißt, Stammesmitglieder seien glücklicher. Das sind sie aber nicht deshalb, weil sie ohne moderne Annehmlichkeiten leben, sondern weil für sie Freundschaft und Familie wichtiger ist als alles andere im Leben. Davon sollten wir im Westen lernen.

Das glaube ich gar nicht. Würde man den Fernseher oder das Handy weglassen, dann hätten wir plötzlich Zeit. Die Menschen haben viel Freizeit, es ist die Frage, wie wir sie nutzen.