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Domino-Effekt droht

Eine Politik der Ausgrenzung, die das Gleichheitsprinzip unterhöhlt, hat sich nach Amnesty-Recherchen breitgemacht. Die Organisation sieht die Menschenrechte weltweit bedroht

Claudius Kleemann

Berlin – Massenverhaftungen in der Türkei, Angriffe auf Umweltaktivisten in Lateinamerika, Verfolgung von Minderheiten in Myanmar: Weltweit werden nach Recherchen von Amnesty Internatio­nal die Menschenrechte untergraben, auch in Demokratien. 2016 sei das Jahr des „Wir gegen die anderen“ gewesen, in dem in vielen Ländern Gruppen als Bedrohung für das nationale Interesse ins Visier genommen worden seien, erklärte die Menschenrechtsorganisation in ihrem jetzt veröffentlichten Jahresbericht. Auch in der EU gebe es beunruhigende Entwicklungen.
„Viele Regierungen und politische Gruppierungen erklären Kritiker pauschal zu Feinden, denen Rechte abgesprochen werden dürfen“, sagte der Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion, Markus N. Beeko. „Sie versuchen, das Grundprinzip, dass jeder Mensch die gleichen Rechte besitzt, auszuhöhlen – dabei gehört dieses Prinzip zu den grundlegenden Errungenschaften seit Ende des Zweiten Weltkriegs.“
Diese Politik der Ausgrenzung sei 2016 in allen Weltregionen dokumentiert worden, erklärte Amnesty. Als Beispiele führen die Menschenrechtler Dekrete in den USA auf, die Menschen ihrer Rechte beraubten, ebenso wie die Massenverhaftungen nach dem Putschversuch in der Türkei. Auch die Anti-Drogen-Kampagne des philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte mit bislang 7000 Toten gehöre dazu. Bedroht würden weltweit auch Menschenrechts- und Umweltaktivisten wie in Honduras, wo zwischen Juli 2015 und Januar 2016 insgesamt 36 Angriffe von staatlichen Stellen auf Aktivisten gezählt wurden. In anderen Ländern wie Indien gingen die Behörden massiv gegen ethnische Minderheiten wie die Adivasi vor, um deren Land wirtschaftlich auszubeuten. In mindestens 22 Ländern weltweit seien 2016 Menschen ermordet worden, nur weil sie sich friedlich für ihre Rechte und die anderer eingesetzt hätten.
Aber auch in den EU-Staaten würden Menschenrechtsstandards ausgehöhlt, betonte Amnesty. Mit der zunehmenden Abschottung Europas, eingeschränkten Freiheitsrechten und Flüchtlingsabkommen mit Problem-Staaten wie Libyen gerate „das Asylrecht unter die Räder“, beklagte Beeko. „Durch die geplante Zusammenarbeit mit Libyen nimmt die EU schwere Menschenrechtsverletzungen in Kauf.“ Falsch sei auch die zunehmende Abschiebung von Asylbewerbern nach Afghanistan, das alles andere als ein sicheres Land sei. Mindestens 36 Staaten hätten 2016 internationales Recht verletzt, indem sie Schutzsuchende in Länder zurückschickten, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Dazu kämen neue Gesetze mit diskriminierendem Charakter in EU-Staaten wie das polnische Antiterror-Gesetz, das sich vor allem gegen nichtpolnische Staatsangehörige richtet, oder die Möglichkeiten zur anlasslosen Massenüberwachung.
Einher gehe die weltweite Erosion menschenrechtlicher Standards mit der Schwächung internationaler Institutionen wie der Vereinten Nationen oder des Internationalen Strafgerichtshofs. Vor Kriegsverbrechen wie in Syrien verschließe die Weltgemeinschaft die Augen.
„Für eine globalisierte Welt sind globale Menschenrechtsstandards eine wesentliche Grundlage für Frieden und Sicherheit“, betonte Beeko. „Wenn mehr und mehr Staaten den politischen Willen vermissen lassen, die Menschenrechte zu stärken, dann droht ein Domino-Effekt.“ epd