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Die Bibel-Detektive

Theologen überall auf der Welt forschen an alten Bibelhandschriften. Auch Holger Strutwolf, Professor in Münster, versucht, den ersten Zeugen so nahe wie möglich zu kommen

Holger Strutwolf sitzt inmitten einer Baustelle. Das kann man wörtlich nehmen: Das Institut für neutestamentliche Wissenschaften der Uni Münster, das er leitet, wird renoviert; überall hämmert und dröhnt es. Aber auch im übertragenen Sinn ist Strutwolf mit einer Baustelle beschäftigt, und die läuft seit rund 500 Jahren im Dauerbetrieb (siehe Kasten): Er arbeitet daran, den ursprünglichen Schriften des griechischen Neuen Testaments so nahe wie möglich zu kommen. Gerade jetzt befasst er sich intensiv mit der Apostelgeschichte.

Wie sah die erste Version der Apostelgeschichte aus?

Die Frage, die Strutwolf und seine Mitarbeiter im Institut antreibt, lautet: Wie sah die Apostelgeschichte aus, als sie zum ersten Mal schriftlich festgehalten wurde? Eine „Urschrift“ in Sinne einer allerersten Niederschrift ist nicht erhalten. Was die Wissenschaftler haben, sind Hunderte von Abschriften auf Papyros oder Pergament, die fleißige Gelehrte im Laufe von Jahrhunderten angefertigt haben; die frühesten stammen vom Beginn des 2. Jahrhunderts. Manche davon sind dicke Rollen; andere nicht mehr als Schnipsel mit einigen Worten darauf.

Die Suche nach der ältesten Version ist detektivische Kleinst­arbeit. Gut für die Forscher in Münster: In Zeiten der digitalen Technik müssen sie nicht mehr zwischen Archiven und Museen in der ganzen Welt pendeln, um die kostbaren handgeschriebenen Originale in Augeschein zu nehmen, sondern könne sie auf Fotos am Bildschirm studieren. Auch sonst spielt der Computer eine wichtige Rolle bei der Forschung, denn mit seiner Hilfe kann man in kurzer Zeit Textmengen sichten, die sonst nur in jahrelanger Arbeit zu vergleichen wären.

Seit Langem schon weiß man, dass die biblischen Handschriften im Großen und Ganzen übereinstimmen. Im Detail jedoch weichen sie mal mehr, mal weniger voneinander ab. Wer jetzt erforschen möchte, wie der ursprüngliche Wortlaut aussah, muss sich auf eine mühevolle Reise begeben: Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe, manchmal Strich für Strich werden die Manuskripte miteinander verglichen, die Abweichungen katalogisiert und dann mit Hilfe bestimmter inhaltlicher und formaler Kriterien entschieden, welche Version wohl die älteste ist.
Dabei war lange Zeit eine Arbeitsweise vorherrschend, die sich mit dem Bild eines Stammbaumes verdeutlichen lässt: Ganz unten steht die „Urschrift“. Diese wird von mehreren Schreibern abgeschrieben – nennen wir sie Kopist 1, 2 und 3 – und weitergereicht. Der Vorgang wiederholt sich immer wieder, so dass nach und nach ein weit verzweigter Baum von Handschriften entsteht.

Fehler wurden immer wieder abgeschrieben

Beim Kopieren kommt es zu Fehlern. Kopist 1 vertauscht zwei Buchstaben. Kopist 2 verrutscht in der Zeile und fügt zwei Worte in den falschen Satz ein, während Kopist 3 besonders aufmerksam ist und ein Zitat aus den jüdischen Schriften „verbessert“, das ihm falsch wiedergegeben scheint. Alle diese Veränderungen werden von den nachfolgenden Schreibern übernommen. So entstehen Text-„Familien“, die man theoretisch bis zum ersten unaufmerksamen Kopisten zurückverfolgen kann.
Legt man nun „Familie“ 1, 2 und 3 nebeneinander, so erkennt man: Die Variante, die auf den Fehler von Kopist 1 zurückgeht, findet sich nicht in Familie 2 und 3. Also kann man davon ausgehen, dass 2 und 3 dem Urtext näher sind als 1. Gleiches gilt entsprechend für die Varianten der Familien 2 und 3.

Diese hier stark vereinfacht dargestellte Methode ist seit Erfindung der historischen Textkritik immer mehr verfeinert worden. Dabei suchen die Wissenschaftler nicht nur nach Fehlern, die durch mechanisches Abschreiben entstanden sind, sondern auch nach inhaltlichen Veränderungen. Strutwolf nennt ein Beispiel: In Apostelgeschichte 4,8 findet sich in vielen Handschriften die Formulierung „ihr Ältesten Israels“ (griechisch: presbyteroi tou israel). „Da wollte ein Pedant den ursprünglichen Text präzisieren“, erklärt der Wissenschaftler. „Dabei  geht aus dem Kontext hervor, dass mit den ,Ältesten‘ nur die Ältesten der Juden gemeint sein können.“ Um aber ganz klar zu machen, dass es nicht um christliche Gemeindeleiter geht, wurde wohl nachträglich „Israels“ eingefügt.

Varianten, die tatsächlich theologische Unterschiede aufweisen, gibt es nur sehr wenige. Eine bekannte Abweichung etwa findet sich im Judas-Brief: In Vers 5, wo es um den Auszug aus Ägypten geht, steht in einigen Handschriften das Wort „Kyrios“, also „Herr“. Andere Handschriften haben stattdessen die Lesart „Jesus“. Hat der Verfasser des Judas-Briefes also daran geglaubt, dass Jesus quasi vor seiner Geburt an der Heilsgeschichte Gottes mit Israel mitgewirkt hat? Nicht immer sind solche Fragen mit Hilfe der Textwissenschaft zu klären. Die Lutherbibel 2017 weist darum an dieser Stelle auf beide Varianten hin.

Computer entdecken kleinste Abweichungen

Inzwischen hat die digitale Technik die Arbeit am Text noch einmal verändert: Durch die großen Datenmengen, die ein Computer verarbeiten kann, werden viele weitere Querverbindungen zwischen den Handschriften sichtbar. Die Wissenschaftler denken daher nicht mehr in „Stammbäumen“, sondern in sogenannten Textflussdiagrammen.
Mit Hilfe dieser Techniken kommen die Theologen dem „Ausgangstext“, wie sie ihn nennen, immer näher. Trotzdem bleiben Unsicherheiten. Und es ist klar: Selbst eine noch so detaillierte Textkritik führt nicht zu einem „offenbarten“, dem ersten Schreiber quasi von Gott ins Ohr geflüsterten Bibeltext. „Wir können nur Hypothesen anbieten“, sagt Strutwolf. Der Umgang mit diesem Text oder seinen Varianten liegt dann in der Verantwortung des Benutzers. Für den Wissenschaftler heißt das: Das Wort Gottes findet sich in der Bibel, aber es ist nicht mit den Buchstaben der Bibel identisch.

Textkritik stärkt Vertrauen in die Bibel

Wozu dann der ganze Aufwand? Strutwolf ist überzeugt: „Die Textkritik stärkt das Vertrauen in die Bibel.“ Erst durch den akribischen Vergleich sei deutlich geworden, wie getreu der Inhalt der Botschaft Jesu von Anfang an überliefert worden sei. Strutwolf: „Auch die verrückteste Variante stellt die Botschaft Jesu nicht in Frage.“