Predigttext
22 Die Güte des HERRN ist‘s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, 23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. 24 Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. 25 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. 26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. 31 Denn der Herr verstößt nicht ewig; 32 sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
Und immer, immer wieder geht die Sonne auf“, tönte es aus den Lautsprechern der Aachener Feuerwehr in den Abendstunden. Udo Jürgens‘ Evergreen als Mutmacher-Song in pandemischer Zeit. Die optimistische Botschaft des Liedes aus dem Jahr 1967: Egal, was passiert, es geht immer wieder weiter. Ja, die Welt hat eine Menge zu bieten, wenn es darum geht, Trost und Optimismus zu verbreiten. Braucht es da noch den Griff zur Bibel? Wenn ich als Pastorin – noch dazu in einer Kirchenzeitung – diese Frage stelle, lautet die Antwort nahezu zwangsweise „Ja!“. Aber warum eigentlich? Worin besteht das biblische Plus?
Positiv denken – das Mantra unserer Zeit
Wie schon erwähnt, auch ohne Bibel gibt es Botschaften, die Trost und Optimismus vermitteln. „Ach Kind, du weißt doch‚ die Hoffnung stirbt zuletzt‘“, versucht Margret ihre Tochter zu trösten, in deren Ehe es massiv kriselt. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ ist ein Film aus dem Jahr 2002. Im Film erschießt sich allerdings am Ende die Hauptdarstellerin, weil sie den privaten und dienstlichen Beziehungsstress nicht mehr aushält.
„Aber Herr Doktor, Sie kennen mich, ich denk‘ immer positiv!“, antwortet Manfred, als sein Arzt angesichts seines Blutbilds ein ernstes Gesicht macht. Positiv zu denken, scheint das Mantra unserer Zeit.
Vom „Licht am Ende des Tunnels“ – genauer gesagt am Ende des Pandemie-Tunnels – sprachen auch immer wieder Virologen und Politiker, als die ersten Impfstoffe zugelassen wurden. Vielleicht hat aber auch hier der chinesische Philosoph Konfuzius Recht mit seiner Weisheit „Der Weg ist das Ziel!“ Der Weg mit all dem, was man unterwegs so lernt, ist auf jeden Fall gefüllte Lebenszeit. Andererseits ist das Ziel nicht zu unterschätzen, weil es Auswirkungen auf den Weg hat. Oder, um es mit dem Beter des 39. Psalms zu sagen: „Lehre mich, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat.“ Also doch eher umgekehrt? „Das Ziel ist der Weg!“
Konfuzius lebte übrigens ungefähr zu der Zeit, als unser heutiger Bibeltext entstand. Es ist das Jahr 578 v. Chr., als Jerusalem zerstört wurde. Das ganze Land ist verwüstet, die Führungsschicht verschleppt oder getötet. Viele Menschen fielen dem Schwert zum Opfer, und die Überlebenden leiden Hunger. Junge Frauen werden misshandelt. Die Stadt ist menschenleer, der Tempel geschändet und Feste werden nicht mehr gefeiert. Die Feinde haben das Sagen. Licht am Ende des Tunnels im Sinne von Rückführung, Heimkehr, Wiederaufbau ist nicht in Sicht. In dieser Zeit entstehen fünf Klagelieder – möglicherweise vom Propheten Jeremia verfasst. Seine Unheilsankündigungen sind Realität geworden: Wenn ihr so weitermacht, wird es böse enden!
Ein Weg kann auch zum „Irrweg“ werden
Das dritte Klagelied stimmt ein offensichtlich älterer Mann an. „Fleisch und Haut sind alt geworden“, er fühlt sich „in Finsternis versetzt wie die, die längst tot sind“ und „eingemauert“. Sein Weg ist weit davon entfernt, das Ziel zu sein, er ist zum „Irrweg“ geworden. Er sieht weder Licht am Ende des Tunnels, noch die Sonne, die jeden Tag wieder aufgeht. Er kann nicht positiv denken, denn „was Glück ist, habe ich vergessen“.
Er beschreibt in einer Flut von Bildern, wie er sich fühlt. Bilder, die auch 2500 Jahre später zur Identifikation mit ihm einladen. Trostlos und trostbedürftig klagt er sein Leid. Indem er das tut, nennt er das Leid beim Namen. Er übertüncht es nicht mit Durchhalteparolen. Er gibt der Klage Raum. Und seine Klage hat einen Adressaten, nämlich Gott.
Dann tut er etwas Zweites: Er nimmt Gott beim Wort. „Die Güte des HERRN ist‘s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu“. Der Gott, der seine Sonne aufgehen lässt über Gerechte und Ungerechte, möge sich erbarmen. Der gerechte Gott möge für Gerechtigkeit sorgen. „Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.“ Der Klage Raum geben, beten und hoffen, dass Leid ein Ende haben kann. Auch nur ein Mantra für Trost und Optimismus? Oder das Plus der Bibel? Vielleicht! Vielleicht auch nicht! Kommt wohl darauf an, ob jemand darauf vertraut, dass Gott ihm entgegenkommt.