Kulturkampf im Klassenzimmer: In den USA wollen Elternverbände und konservative Politiker zunehmend Einfluss darauf nehmen, welche Bücher in den Schulen gelesen werden und welche nicht. Ihr Protest richtet sich gegen Werke, die beispielsweise Rassismus oder LGBTQ+-Inhalte thematisieren und als „anstößig“ bezeichnet werden. Es geht dabei auch gegen renommierte Autorinnen und Autoren wie Margaret Atwood, Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison oder Angie Thomas („The Hate U Give“). Schulen und Bibliotheken nehmen Bücher aus den Regalen, Kritiker sprechen von Zensur.
Im Schuljahr 2022/23 seien 3.362 Fälle bekannt geworden, in denen an Schulen der Zugang zu Büchern verboten oder beschränkt worden sei, 33 Prozent mehr als im Jahr davor, teilte der Autorenverband „PEN America“ mit. Es gehe um mehr als 1.500 Buchtitel. Besonders häufig würden Werke von Autorinnen, People of Color oder LGBTQ+-Personen angegriffen. Die treibende Kraft dahinter stamme aus dem konservativen Spektrum, sagte PEN-Expertin Kasey Meehan, auch von Menschen mit christlich-nationalistischen Ansichten.
Betroffen sind ebenso öffentliche Büchereien. Laut Bibliotheksverband „American Libraries Association“ sind von Januar bis September dieses Jahres 1.915 Versuche bekannt geworden, bestimmte Bücher zu verbieten, 20 Prozent mehr als im selben Zeitraum 2022.
Aufmerksamkeit erregt gegenwärtig der Schulbezirk des Landkreises Collier in Florida. Dort habe die Schulbehörde mehr als 300 Bücher aus dem Verkehr gezogen oder Zugang zu den Werken begrenzt, berichteten Lokalmedien Anfang November. Das fand Beifall bei „Moms for Liberty“ (Mütter für Freiheit), einem der führenden Verbände gegen vermeintliche staatliche Bevormundung. Eltern hätten das fundamentale Recht, über die Schulbildung ihrer Kinder zu bestimmen, erklärte die Vorsitzende des Ortsverbandes in Collier County, Yvette Benarroch.
Die Collier-Liste ähnelt vielen in anderen Schulbezirken. Oft stören sich Kritiker an Passagen mit sexuellem Inhalt. Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison („Menschenkind“) ist darauf vertreten, ebenso Aldous Huxley („Schöne neue Welt“), mehrere Krimis von Stephen King, Alice Walkers Roman „Die Farbe Lila“, Kurt Vonneguts „Schlachthof 5“ und „All Boys Aren’t Blue“, von George Johnson, Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend als schwarzer und queerer Junge. Ein Leserbriefschreiber kommentierte, die Liste sei ein Angriff auf die „ureigene Stärke unseres Landes“: dass man lesen könne, was man wolle.
Florida liegt vorne unter den „Bücherverbotsstaaten“. Der republikanische Gouverneur Ron DeSantis unterzeichnete vergangenes Jahr ein Gesetz, das die Themen sexuelle Orientierung und Geschlechteridentität im Unterricht verbietet. „Elternrechte in Bildung und Erziehung“ heißt das Gesetz offiziell, Kritiker sprechen von „Don’t say gay“-Gesetz. Gegenwärtig macht DeSantis mit den Themen „Elternrechte“ und „anti-woke“ Präsidentschaftswahlkampf, wendet sich also gegen das, was Amerikas Konservative als übertriebene Korrektheit der Linken empfinden: den Einsatz gegen Rassismus und für Vielfalt.
Besonders häufig verboten wurde in Collier die Jugendbuchautorin Ellen Hopkins mit Bestseller-Titeln wie „Crank“, „Burned“ und „Tricks“. Es geht darin um das Erwachsenwerden, um Identitätsfindung, Gender und auch um Drogen, Sex und ungeordnete Beziehungen. Hopkins schreibt auf ihrer Webseite, sie sei Trägerin des „nicht gänzlich beneidenswerten Titels ‘Am meisten verbotene Autorin in Amerika’“.
Die Präsidentin des Verbandes der Schulbibliothekarinnen, Courtney Pentland, kritisiert die Verbotskampagnen grundsätzlich. Schon seit Langem könnten Eltern doch verlangen, dass ihr „Kind zu bestimmten Büchern keinen Zugang haben soll“, erklärte Pentland im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Wer Bücher verbieten wolle, verstoße gegen die Rechte anderer. Courtland berichtete von „ernsthaften Sicherheitsproblemen“ und Bedrohungen von Bibliothekarinnen
Wie DeSantis in Florida spricht auch der republikanische Gouverneur von Virginia, Glenn Youngkin, viel von „Elternrechten“. Ein neues Gesetz im Staat schreibt vor, dass Eltern über „sexuell explizites“ Material im Unterricht benachrichtigt werden müssen. Mehrere Schulbehörden in Virginia haben Bücher aus dem Verkehr gezogen. Am 7. November fanden in mehreren US-Staaten Zwischenwahlen statt. Das Ergebnis war ein Rückschlag für Youngkins Kurs: Die Demokraten behaupteten ihre Mehrheit im Senat von Virginia und erkämpften die Mehrheit im Repräsentantenhaus. In zahlreichen Wahlkreisen ging es dabei explizit um das Thema „Elternrechte“.
Unklar ist, wie stark Verbote das Leseverhalten beeinflussen. Experten und Expertinnen von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh (US-Staat Pennsylvania) kamen im Juni 2023 in einer Studie zu dem Ergebnis, dass die Zirkulation „verbotener“ Bücher in öffentlichen Büchereien um etwa zwölf Prozent gestiegen sei. Kasey Meehan von PEN America erklärte, Bücher, die als verboten gälten, fänden wegen der Kampagne gegen sie eine größere Leserschaft.