Heidelberg (epd). Die berühmte Kreide im Grimmschen Märchen «Der Wolf und die sieben Geißlein» hat sicher schon vielen Menschen Rätsel aufgegeben. Warum kommt der Wolf auf die Idee, Kreide zu fressen, und wie kann dadurch die Stimme geschmeidiger werden? Wolfgang Eckart, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Heidelberg, kennt die Antwort. «Mit der 'Kreide' ist das Kraut Holundermus gemeint», sagt Eckart. «Und damit kann eine raue Stimme tatsächlich sanfter klingen.» Der Medizin-Historiker erforscht Heilmittel in Märchen. Früher bekämpften die Leute mit Holundermus Halsschmerzen.
Doch manche der aus Märchen und Geschichten bekannten Elixiere funktionieren der Wissenschaft zufolge nur im Reich der Fantasie, etwa der Zaubertrank bei Asterix. «In den Comics wird Alraune in den Trank gemischt. Das ist eine Wurzel, der man aufgrund ihrer menschlichen Form große, magische Kräfte zuschrieb», sagt Eckart. Er bezeichnet das Phänomen als «Ähnlichkeitsmagie». Ein Aberglaube, der zum Beispiel auch die Annahme begründet, dass das Leberblümchen Lebererkrankungen heilt. Eine Wirkung haben Alraune und Co. aber nicht.
Dagegen kann der Fliegenpilz tatsächlich todbringend sein, und Alice im Wunderland scheint das gewusst zu haben, denn sie probierte nur ein kleines Stück. Daraufhin passierte etwas Unglaubliches: Sie wurde mal größer, mal kleiner: «Da geht es um die halluzinogene Wirkung des Pilzes», sagt Eckart.
Viele aus Märchen bekannte Säfte können so gut wie alles wieder kurieren. «Dahinter steckte die alchemistische Vorstellung vom Elixier des Lebens», sagt Eckart. Solche stärkende Wirkung wird im Märchen auch Wasser zugesprochen. Heute nennt sich das Aquavit, was übersetzt «Wasser des Lebens» bedeutet. «Die Menschen im Mittelalter suchten verzweifelt nach Möglichkeiten, um sich vor Krankheiten zu schützen. Der irdische Schutz funktionierte nicht, und dann lag alles in Gottes Hand.» Mit einem dritten Weg seien Mittel für das Leben heraufbeschworen worden, selbst wenn diese nur in der Märchenwelt funktionierten.
Anfang des 19. Jahrhunderts erschienen die Grimm-Märchen als Bücher. «Kindersterblichkeit und Tuberkulose-Erkrankungen waren zu dieser Zeit enorm verbreitet. Infektionskrankheiten ließen sich noch gar nicht behandeln», so Eckart. Doch im Märchen spielen sie keine Rolle. «Tod und Krankheit waren Normalität. Davon wollte man nicht berichten, sondern vom Unnormalen. Deshalb steht nichts über Fieber in diesen Geschichten, sondern eher von Einhörnern», sagt der Fachmann.
Auch gibt es kaum Märchen, in denen Ärzte eingebunden sind. Ein Grund sei, dass Mediziner im Mittelalter selten waren. «Die Ärztedichte lag lange nicht so hoch wie heute. In Böblingen gab es damals beispielsweise ein oder zwei Stadtärzte, die zusätzlich für den ganzen Schönbuch zuständig waren.» Außerdem seien Ärzte vor allen beim Adel und Bürgertum ein- und ausgegangen, nicht aber für ärmere Leute erreichbar gewesen. Deshalb seien sie in Volksmärchen kein Thema.
Dafür gibt in Märchen viele kleine Menschen, wie die hilfsbereiten Zwerge bei Schneewittchen. Hier erinnert Eckart an die Zielgruppe: