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Bilder des Grauens – Über das Erbe des Vietnam-Krieges

Die längste militärische Auseinandersetzung des 20. Jahrhunderts hat Spuren hinterlassen – bis in unsere Tage. Und sorgt immer noch für Schlagzeilen. Wenn etwa eine Vietnamesin auf den Papst trifft.

Die Aufnahmen gingen vor 50 Jahren um die Welt. Saigon, 30. April 1975: Um 8.00 Uhr morgens landet noch einmal ein Helikopter auf dem Dach der US-Botschaft, um die letzten Amerikaner aus der umkämpften Metropole herauszuholen. Mittags rollen die ersten Panzer der nordvietnamesischen Truppen auf den Boulevards der Hauptstadt Südvietnams in Richtung Präsidentenpalast. Der Vietnam-Krieg ist Geschichte. Sein Erbe aber ist bis heute spürbar.

Der Konflikt hatte seine Wurzeln im Zerfall der französischen Kolonialmacht in Indochina während des Zweiten Weltkrieges. 1954 wurde Vietnam in eine kommunistisch dominierte Nord- und eine unter westlichem Einfluss stehende Südzone geteilt, ähnlich wie ein Jahr zuvor Korea. In der Folge eskalierte der Stellvertreterkrieg zwischen den beiden Großmächten des Kalten Krieges, den USA und der Sowjetunion – mit entsetzlichen Folgen für die vietnamesische Bevölkerung.

Beim Massaker von My Lai töteten US-Soldaten im März 1968 mehr als 500 Menschen. “Wenn es ein Haus ist, zündet es an; wenn es ein Brunnen ist, vergiftet ihn; wenn es lebt, tötet es”, hatte Kompanie-Chef Captain Ernest Medina seinen Männern zuvor befohlen. Auch der Gegner, der Vietcong, ging über Leichen. Bei der Tet-Offensive zum vietnamesischen Neujahrsfest am 31. Januar 1968, wenige Wochen vor dem Massaker von My Lai, wurden 25.000 Zivilisten verwundet und 14.000 getötet, davon allein 6.000 in Saigon.

“Kaum ein Bild zeigte die Brutalität des Krieges schonungsloser als ein Foto des südvietnamesischen Polizeipräsidenten, der auf offener Straße einem gefesselten Guerilla die Pistole an die Schläfe presste und abdrückte”, schreibt der Historiker Marc Frey in seiner “Geschichte des Vietnamkrieges”. Und fügt hinzu, was das ebenfalls im Jahr 1968 entstandene Foto nicht zeigte: “Die von Guerillas ermordete Familie des Polizeichefs.”

Quasi in Echtzeit habe die Welt verfolgen können, was sich in Vietnam abspielte, so Frey. “Mit den Augen von 700 Journalisten sahen die Amerikaner in 50 Millionen Wohnzimmern fassungslos, wie das Land, das ihre Soldaten schützen sollten, niedergebrannt, verwüstet, zerbombt wurde.” Mit Napalm und Flächenbombardements versuchten die Amerikaner ihre überall im Land versteckten Gegner regelrecht auszuräuchern. Ihre Befürchtung: Fällt Vietnam, kriegen die USA in ganz Südostasien keinen Fuß mehr in die Tür. Bald weitete sich der Konflikt auch auf die Nachbarstaaten Kambodscha und Laos aus.

Allein zwischen 1961 und 1975 fielen etwa zwei Millionen Vietnamesen; die USA verloren bei den Kämpfen rund 58.000 Soldaten. In der Heimat begehrten immer mehr Amerikaner gegen den Krieg auf. Die Traumfabrik Hollywood sollte den amerikanischen Albtraum später in Szene setzen. Am bekanntesten: “Apocalypse Now” mit Marlon Brando als “The Horror” murmelndem Colonel Kurtz.

Auf den Straßen in Deutschland und anderen europäischen Ländern skandierten Studenten “Ho-Ho-Ho-Chi-Minh”. Der Berufsrevolutionär mit dem weißen Kinnbart und der hohen Stirn war das Gesicht dieses Kampfes David gegen Goliath, Vietcong gegen die US-Truppen. Das Ende des Krieges erlebte Ho Chi Minh nicht mehr mit. Er starb am 2. September 1969 an den Folgen eines Herzinfarkts.

Saigon ist heute nach ihm benannt. In Ho-Chi-Minh-Stadt finden die zentralen Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Kriegsendes statt – nach offizieller Lesart ein Tag der Freude aufgrund der nationalen Wiedervereinigung und des Sieges über das “Amerikanische Marionettenregime”, wie der Leiter des Vietnam-Büros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, Florian Constantin Feyerabend, sagt.

“Der Verweis auf den erfolgreichen bewaffneten Widerstand gegen ausländische Mächte ist konstitutiv für die vietnamesische Nationalerzählung”, erläutert Feyerabend. “Er ist auch legitimitätsstiftend für den politischen Führungsanspruch der Kommunistischen Partei Vietnams.”

Das Verhältnis zu den USA bleibe komplex – erst recht unter Präsident Donald Trump, betont der Experte. “Berichte, wonach die Vereinigten Staaten den Feierlichkeiten zur ‘Befreiung Saigons’ fernbleiben könnten, stellen neben der noch ungelösten Zollfrage eine Hypothek für die bilateralen Beziehungen dar.” Lachender Dritter könne China sein.

Die meisten Vietnamesen haben keine konkreten Erinnerungen mehr an den Krieg. Das Durchschnittsalter liegt bei gerade einmal 33 Jahren. Aber es gibt noch genügend Zeitzeugen, die berichten können. Jene Boatpeople etwa, die nach dem Sieg der Kommunisten die gefahrvolle Flucht über das Südchinesische Meer antraten.

Oder Kim Phuc Phan Thi. Sie wurde 1972 bei einem Napalm-Angriff schwer verwundet. Das Bild des nackten und schreienden Mädchens ging um die Welt – genauso wie die Aufnahmen von der Evakuierung der US-Botschaft 1975 in Saigon. Als Kim Phuc 2022 Papst Franziskus traf, zitierten Medien sie mit den Worten: “Ich bin nicht mehr ein Opfer des Krieges. Ich bin Mutter, Großmutter und eine Überlebende, die zum Frieden aufruft.”