„Ich liebe meinen Beruf und bin stolz darauf, dass ich hier bekannt bin wie ein bunter Hund“, sagt sie. Am 27. September hat sie ihren Schlüssel zum letzten Mal in der Neuköllner Karl-Marx-Straße 178 zum Feierabend umgedreht. „Ich bin nicht pleite und es ist auch kein skrupelloser Vermieter daran schuld“, steht in ihrem Abschiedsbrief, der im Schaufenster hängt. Darin ist von einer 80-Stunden-Woche die Rede. „Mein Privatleben, mein Mann und auch meine Person sind oft hinten runtergefallen“, heißt es dort weiter. Und dass der Laden nach 90 Jahren wahrscheinlich kein Blumengeschäft mehr sein wird.
Kirchengemeinden aller Konfessionen waren Kunden
Während wir hinten im Laden sitzen, zählt sie alle Kirchengemeinden auf, die sie zu Hochzeiten, Taufen und Trauerfeiern beliefert hat: die evangelischen Magdalenen und Bethlehem, die katholischen St. Clara und St. Eduard, die Gotteshäuser der Baptisten und der Böhmen, mit denen sie die Herrnhuter meint. Bräute, die nicht in Weiß heiraten, bat sie, ein Stück Stoff von ihrem Kleid mitzubringen, damit die von ihr ausgewählten Blumen „sich nicht beißen“. Jede Blume hat ein Gesicht, ist Angelika Horn überzeugt. Ihre Anordnung sei nicht nur wichtig beim Binden von Brautsträußen, sondern auch bei der Bepflanzung von Gräbern.
Ihre alte Kundschaft ist inzwischen verstorben, eine neue nachgewachsen. Sie habe, betont Horn, vom Zuzug der kaufkräftigen Kundschaft nach Neukölln profitiert. Und das, obwohl oder gerade, weil sie es ablehnt, Fertigsträuße anzubieten. Sie hat dazu eine Art Manifest verfasst, das gleich neben der Kasse hängt. Man könne sich mit ihrer Hilfe einen individuellen Strauß zusammenstellen, heißt es dort. Fertige Sträuße dagegen entsprechen nicht ihrem Verständnis von Frische und Qualität.
Die älteste Kundin ist 107 Jahre alt
Getauft und konfirmiert wurde sie um die Ecke in der Nikodemuskirche. Sie habe mit Gott eine eigene Philosophie: „Wenn ich eine offene Kirche sehe, dann gehe ich rein, zünde drei Kerzen an und hänge meinen Gedanken nach.“ Die Neuköllnerin trägt ihr Herz auf der Zunge. „Ich habe manchmal eine kurze Zündschnur“, gesteht sie. „Und es gibt Momente, wo mir eine Feder wächst.“ Ihre barsche Art kann auch einschüchtern. Aber am Ende hält man immer einen schönen Strauß in der Hand. Fragt man sie nach ihren schönsten und traurigsten Erlebnissen der letzten 30 Jahre, bekommt sie feuchte Augen. Sie habe Kinder großwerden sehen, ebenso aber auch liebe Stammkunden mit ihrer Blumendekoration zu Grabe ge tragen. Umgekehrt hätten die Kunden an ihrem Leben teilgenommen und an ihren Geburtstag gedacht.
Ihre älteste Kundin ist inzwischen 107 Jahre alt. Weil sie als Mädchen Jette gerufen wurde, hat sie den Laden, den sie 1995 übernahm, „Blumen-Jette“ genannt. Ihr Logo ist eine Mohnblume, die zu ihren Lieblingsblumen gehört. Etwas „Blumen-Jette“ wird nach dem Abschied noch bleiben. Mit „Jettes Blumen-Werkstatt“ bietet Angelika Horn in Zukunft auf Vorbestellung gefertigte Dekorationen für Familienfeiern aller Art an. Vorher wird es im leergeräumten Laden im November noch einen Abschiedsumtrunk für Geschäftspartner, Freunde, Weggefährten und Stammkunden geben. Angelika Horn wird dabei ein T-Shirt mit der Aufschrift „Eine Legende geht in Ruhestand“ tragen, das ihr Mann drucken ließ. Und es gibt von ihr selbst gekochte Kürbissuppe, die ebenfalls legendär sein soll.