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Autorin und Ärztin Lou Bihl zur Frage, wie Menschen sterben wollen

Eine Ärztin wird Schriftstellerin: Lou Bihl schreibt über das Sterben, das Leben und das, was dazwischen wichtig ist. Im Interview erklärt sie, warum der Tod nicht immer traurig ist – und was sie vom Staat erwartet.

Die quirlige Marlene und die Palliativmedizinerin Helena begegnen sich nach Jahren wieder – und Marlene erkrankt schwer. Von einer ungewöhnlichen Freundschaft, von Hoffnung und der großen Frage nach einem “guten Tod” erzählt der neue Roman von Lou Bihl, die in ihrem “ersten Berufsleben” Ärztin war. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht sie über Humor und Medikamente – und richtet einen Appell an die Bundesregierung.

Frage: Frau Bihl, “Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben” – so heißt Ihr Roman, und der Spruch wird mehrfach zitiert. Was macht ein gelingendes Leben sonst noch aus?

Antwort: Zu einem erfüllten Leben gehört, dass man selbst entscheiden kann, wie man lebt. Das schließt auch das Recht ein, selbstbestimmt zu sterben, wenn man – beispielsweise durch eine Krankheit – so ehr leidet, dass man es unerträglich findet. Dann sollte die Option zur Suizidassistenz nicht vom Gesetzgeber verwehrt werden. Als Option, wohlgemerkt. Allein zu wissen, dass diese Möglichkeit besteht, lindert oft schon das Leiden.

Frage: Ein Roman über selbstbestimmtes Sterben ist keine leichte Kost. Warum war Ihnen das Thema dennoch wichtig?

Antwort: Ich denke, das Thema lag in der Luft – durch die Gesetzgebung, die 2015 den assistierten Suizid unter Strafe gestellt hat. Ärzte riskierten dafür bis zu drei Jahre Knast. 2020 wurde der Paragraf vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben. Eine aufkommende Diskussionswelle ging dann durch Corona unter. Doch man sollte darüber sprechen, weil viele Missverständnisse herrschen.

Frage: Welche?

Antwort: Begriffliche Unschärfe, was unter Suizidassistenz zu verstehen ist. Oft wird sie mit Sterbehilfe verwechselt, die etwas anderes ist. Passive Sterbehilfe bedeutet das Unterlassen von lebensverlängernden Maßnahmen, zum Beispiel das Abstellen von Beatmungsgeräten. Aktive Sterbehilfe beschreibt, dass der Arzt aktiv zum Tod beiträgt, also dem Patienten etwa ein Mittel spritzt, das das Leben beendet. Letzteres ist nach wie vor strafbar, nur die Suizidassistenz nicht. Ein Arzt darf einem Patienten die entsprechenden Mittel besorgen, er muss sie aber selbst zu sich nehmen. Auch da gibt es allerdings Grenzsituationen, etwa bei gelähmten Menschen.

Frage: Was müsste also geschehen?

Antwort: Es braucht mehr Klarheit. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass es nicht Sache des Staates ist, zu entscheiden, ob oder wie Menschen ihr Leben beenden. Man kann es bedauern, wenn jemand das tut, aber der Staat darf dies weder vorschreiben noch jemanden dafür bestrafen. Andererseits ist das Medikament, das in vielen Ländern dafür verwendet wird, bei uns in Deutschland nicht zugelassen. Auch die Dauerhaftigkeit eines Sterbewunsches, die als Voraussetzung für eine Suizidassistenz gilt, ist nicht definiert. Österreich hat sich festgelegt: mindestens zwölf Wochen. In Deutschland muss ein Arzt entscheiden, ob der Sterbewunsch lange genug besteht.

Frage: Wie sehen Sie die Rolle der Kirchen?

Antwort: Die Kirchen spielten 2015 eine erhebliche Rolle bei der Einführung des Paragrafen 217, der den assistierten Suizid unter Strafe stellte. Auch 2020 haben sie dessen Abschaffung kritisiert. Aber das ist kaum an die Öffentlichkeit gedrungen.

Ich finde es wichtig, dass man über assistierten Suizid kontrovers diskutiert. Nur ist es nicht Aufgabe der Kirche oder des Staates, rechtlich verbindlichen Einfluss auf die wichtigsten, persönlichsten Entscheidungen eines Menschen zu nehmen. Wenn aber jemand darum bittet, ihm zum Tod zu verhelfen, weil er keine Lust mehr auf das Leben hat – dann wird der Arzt natürlich versuchen zu klären, wo diese Haltung herkommt und ob es einen anderen Weg gibt.

Frage: Während der Corona-Zeit wurde viel über das Sterben gesprochen; Sie erinnern im Buch an grauenvolle Szenarien wie in Bergamo. Wirken diese Erfahrungen nach?

Antwort: Kaum, sie werden von Seiten der Politik und auch im allgemeinen Bewusstsein leider weitgehend verdrängt. Man hat daraus beispielsweise nicht gelernt, dass Pandemien teilweise Folgen des menschengemachten Klimawandels sind und auch durch Vertreibung von Wildtieren aus ihrem natürlichen Habitat übertrage werden. Mein zweiter Roman “Amazonah” handelt von einer Pandemie, bei der sehr viele Menschen aller Altersgruppen sterben. Bei Corona sind in der ersten Phase viele gestorben – auch jüngere Menschen. Danach hat sich das Virus verändert und war weitaus weniger tödlich.

Frage: Zugleich ist der Tod etwa in TV-Krimis omnipräsent. Wollen wir so dem realen Tod entkommen?

Antwort: Gute Frage. Ich würde noch einen Schritt weitergehen: Wenn man in Krimis ständig Leichen sieht, wird man gewissermaßen gegen das Grauen des Sterbens immunisiert und beschäftigt sich nicht mehr mit dem eigenen Tod oder dem nahestehender Menschen.

Frage: Warum sollte ein junger, gesunder Mensch über den Tod nachdenken?

Antwort: Der Tod ist ein Tabu – nicht nur bei jungen, gesunden Menschen. Die Endlichkeit wird ausgeblendet. Vor allem aber beschäftigt man sich zu wenig damit, das Leben so zu gestalten, als wäre es eben nicht unbegrenzt. Dabei würde man sich dann in vielem anders verhalten. Ein simples Beispiel ist die Frage, worüber man sich ärgert – über Kleinigkeiten oder nur über entscheidende Dinge. Das lernen Menschen oft erst, wenn sie wissen, dass es bald zu Ende geht.

Frage: Das Sterben wird im Buch als “wichtigster Moment im Leben eines Menschen” bezeichnet. Klingt fast nach einem christlichen Motiv – oder wie meinen Sie es?

Antwort: Ich meine es nicht christlich, ich würde nicht einmal sagen, philosophisch. Man hat vor diesem Moment die allergrößte Angst; zugleich ist der Tod – neben der Geburt – das einzige Ereignis, das 100 Prozent der Menschen trifft. Diese Erkenntnis muss nicht mit Grauen behaftet sein, sondern kann dazu führen, diesen Prozess zu gestalten. Ich habe eine besondere Friedlichkeit bei Patienten erlebt, die im Kreis liebender Angehöriger sterben konnten, die bis zum Schluss ihre Hand hielten. Eine natürliche Vollendung des Lebens kann sehr schön sein – unabhängig vom Glauben oder der allgemeinen Lebensseinstellung.

Frage: Wie schwierige Momente große Bedeutung bekommen, beschreiben Sie sehr bewegend. Wie viel von der Onkologin steckt im Roman?

Antwort: Nichts persönlich Erlebtes. Aber ich habe sehr oft Menschen sterben sehen, auf ganz verschiedene Weise. Leider schieben viele den nahenden Tod bis zum letzten Moment von sich, planen womöglich die nächste Reise. Wenn ein Patient das Verdrängen als Weg wählt, darf man nicht eingreifen. Doch die harmonischeren Situationen waren die, in denen alle wussten, was kommt und damit ihren Frieden gemacht hatten. Dann kann ein trauriger Abschied auch für die Angehörigen tröstlich sein.

Frage: Kann die Literatur solch komplexe Themen ins Bewusstsein bringen?

Antwort: Das wäre mein Wunsch als Autorin. Ich glaube, das Interesse an einem schwierigen Thema kann in einem Roman eher gelingen als in Sachbüchern. Die werden vor allem von denjenigen gelesen, die sich sowieso mit dem Problem befassen. Einen Roman nehmen manchmal auch Menschen in die Hand, die mit dem Thema noch nicht beschäftigt waren, und stellen fest, dass sie das so noch gar nicht betrachtet haben. Wenn mir jemand eine solche Rückmeldung gibt, bin ich happy.

Frage: Es gibt auch komische Momente im Buch. Welche Rolle spielt Humor angesichts der “letzten Dinge”?

Antwort: Ich glaube, er sollte immer eine Rolle spielen. Wenn der Humor wegfällt, dann wird vieles unerträglich. Es gibt kaum eine Lebenslage, sei sie noch so schlimm, in der ein kleines Augenzwinkern nicht irgendwie möglich ist. Humor ist eine Art, sich empathisch zu distanzieren und einen Puffer zwischen sich und die Situation zu bringen, damit man sie besser erträgt.