Die durchtrainierte Frau ist mit ihrem Fahrrad unterwegs. Vor einer Kirche in Bielefeld wartet sie auf den Beginn des Gottesdienstes. Im Sonnenschein des Sonntagmorgens macht sie den Eindruck, als habe sie ihr Leben im Griff. Doch das täuscht. „Hier auf dem Kirchplatz erscheint mir alles sehr hell und sehr licht“, sagt sie, während sie ihr Fahrrad abschließt. „Ich merke, dass mir der Gedanke an den Gottesdienst Freude macht, und dass ich einmal nicht diesen Geist neben mir herlaufen habe, dieses Unsichtbare, das droht, mich zu ertränken.“
Die Stimmung kann schlagartig wechseln
Die Frau mit kurz geschnittenen Haaren ist Mitte vierzig. „Mein Name ist Kerstin. Ich tue mich sehr schwer damit, meinen Nachnamen zu sagen. Im Rahmen einer Traumatherapie lerne ich langsam, mich mit meiner Geschichte zu identifizieren. Nach und nach erkenne ich, dass es nie zu spät ist, neu zu beginnen, und dass es viele Menschen gibt, die helfen.“ Vor dem Kirchenportal wird Kerstin per Handschlag von Pastor Hermann Rottmann begrüßt. Er ist seit fast zwanzig Jahren Teil des Netzwerkes Opferschutzhilfe und der Beauftragte für Notfallseelsorge.
Gut gelaunt setzt sich Kerstin auf eine der hölzernen Bänke und schaut sich um. Tags zuvor war ihre Stimmung noch trüb: „Es passiert manchmal, dass ich eine Phase habe, in der die Wogen des Misstrauens über mir zusammenschlagen. Dann sehe ich alles nur noch schwarz und fühle mich einsam.“
Vier Monate sind vergangen, seit Kerstin alle Kontakte zu ihrem früheren Leben abgebrochen hat. Sie bemüht sich, die schmerzlichen Erinnerungen an ihre Beziehung mit einem gewalttätigen Mann, der sie immer wieder gedemütigt hat, zu überwinden: „Er hat mir alles genommen. Ich hatte niemanden mehr, der zu mir stand. Aber man braucht Menschen, die da sind und einen bedingungslos schützen.“
Als Opferschutzbeauftragter spricht Pastor Rottmann öfter mit Frauen, die ähnliches erlebt haben: „Die Opfer rutschen meist völlig unbeabsichtigt in eine solche Situation. Dann wissen sie nicht, wie sie damit umgehen sollen. Ohne Hilfe und professionelle Begleitung ist es schwer.“
Die Opfer mehr in den Blick nehmen
Vom Altar aus begrüßt der Pastor seine Gemeinde. Kerstin strahlt. „Ich hatte schon gedacht, dass ich den Zugang zum Glauben verloren habe. Aber das scheint nicht so zu sein.“
Nachdem ein Verbrechen aufgeklärt wurde, fokussiert die öffentliche Aufmerksamkeit meist die Täter. Über sie berichten die Medien, um sie dreht sich das Gerichtsverfahren, von ihnen wird gesprochen. In der Kirche bekommen sie die Möglichkeit, wieder mit Gott ins Reine zu kommen.
Und die Opfer? Wird ihnen ein Weg geebnet? Zurück in ein sorgenfreies Leben und zu einer vertrauensvollen Beziehung zu Gott? Pfarrer Hermann Rottmann findet, Kirche und Gesellschaft müssten mehr leisten: „Die Opfer sind über lange Zeit zu kurz gekommen. Wir müssen sie mehr in den Mittelpunkt unserer Hilfsangebote rücken.“
Kerstin schaudert, wenn sie sich erinnert. „Er hat mich extrem geschlagen. Mein Hals hat geknackt. Ich weinte immer und habe ihn gefragt, warum er das macht. Er sagte nur: ‚Im Bett ist das erlaubt.‘“ Kerstin hat Hilfe gesucht – und gefunden. So ist es ihr gelungen, sich aus der Beziehung zu lösen: „Ich hatte das Glück, dass ich Menschen gefunden habe, die sich wie ein Kreis um mich geschlossen haben. Dazu gehört auch die Polizei und das Gericht. Die haben mir geglaubt. Ohne diese Unterstützung hätte ich keine Chance gehabt, aus dieser totalen Kontrolle herauszukommen.“
Pastor Rottmann ist ein kräftiger, großer Mann, der viel lacht und im Urlaub gern in den Süden fährt. In der Gemeinde ist er beliebt und gilt als Frohnatur. Es gelingt ihm, seine fröhliche Haltung auch dann zu bewahren, wenn er sich den Grauen des Lebens zuwendet. Er hat Erfahrung im Umgang mit Verbrechensopfern, als Telefonseelsorger, als Seminarleiter und in vielen persönlichen Gesprächen. „Das erste ist, den Menschen Sicherheit zu geben“, sagt er. „Manchmal ist es auch gut, mit ihnen zu beten. Es geht ums Zuhören. Klagen, Verzweiflung. Das braucht Zeit.“
Der Pfarrer hilft, Zugang zu Gott zu finden
Lange fühlte sich Kerstin fern von Gott. Erst seit sie wieder alleine lebt, ahnt sie, welche Kraft in ihrem Glauben steckt: „Pastor Rottmann gibt mir das Gefühl, dass da noch jemand ist, der in besonderer Weise Zugang zu Menschen wie mir hat. Wer so ein Leid nicht kennt, versteht es nicht.Weiß nicht, wie es ist, in einem Meer der Einsamkeit zu versinken.“
Wenn ein Mensch akut therapeutische Hilfe braucht, kann Pastor Rottmann schnell einen Termin mit einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie besorgen. Steffi Koch-Stoecker ist leitende Ärztin einer Psychatrischen Traumaambulanz in Bielefeld: „Die meisten der Menschen, die zu uns kommen, haben in ihrer Biographie jede Menge Vortraumatisierungen erlebt.“
Auch Kerstins Leben war geprägt von Gewalt: „Zwei Erfahrungen haben schon immer eine große Rolle in meinem Leben gespielt: Missbrauch und Verrat. Das führt zu Angst und Unterwerfung. So entsteht diese Macht, die sich über einem aufbaut. Ich weiß gar nicht, wie es ist, ohne das zu leben.“
Der Leidensweg begann schon in der frühesten Kindheit: „Ich bin die Erstgeborene. Eigentlich wollte mein Vater unbedingt einen Jungen. Deshalb hat er weggeschaut, als ich über einen sehr langen Zeitraum von einem Cousin schwer missbraucht wurde. Er war für meinen Vater wie ein Sohn. Ich fühlte mich so lebensunwürdig. Als hätte ich keine Daseinsberechtigung.“
Steffi Koch-Stoecker kennt diese Haltung nur zu gut: „Wenn Kinder aufwachsen, brauchen sie Personen, an die sie sich binden können. Aber manchmal gibt es Eltern, die dem Kind Böses tun. Kinder erleben, dass die Person, die für sie sorgt, zugleich diejenige ist, die ihr weh tut. So entsteht ein nachhaltiges Gefühlschaos.“
Für einige Erwachsene bleibt dass alte Muster bestehen: Derjenige, der mir wehtut, ist zugleich auch die Person, die für mich sorgt. So hat es auch Kerstin erlebt. Der Mann, der sie immer wieder geschlagen hat, war polizeilich als Gewalttäter bekannt.
Von den Eltern allein und im Stich gelassen
Ihre Eltern hätten einschreiten und ihr helfen können, denn sie haben die Gewalt selbst erlebt, erzählt Kerstin: „Er hat meinen Vater ins Schlafzimmer gezerrt und gedroht, ihm den Kopf abzuschlagen. Meine Mutter hat einen Schlag an die Schläfe abbekommen, mit der Gartenhacke. Immer wieder schrie er, er würde seine Freunde rufen und meine Eltern umbringen. Ich selbst hatte überhaupt keine Möglichkeit mehr, mit irgendjemand zu sprechen. Er hat mich nie allein gelassen.“
Nach diesem letzten Besuch kamen Kerstins Eltern nicht mehr zurück. Sie halfen ihrer Tochter nicht, erstatteten keine Anzeige. Diesen erneuten Verrat kommentiert Kerstin lakonisch: Sie habe es nicht anders erwartet. „Über diese ganzen Zusammenhänge kann ich tatsächlich erst jetzt in der Traumatherapie sprechen. Ich habe ein zweites Leben bekommen. Jetzt darf ich lernen, was ich früher nie gelernt habe. Dafür bin ich dankbar.“
Mit Zuversicht und Hoffnung in die Zukunft
Auf Grund ihrer Erfahrung in der Traumaambulanz hält die Psychiaterin Koch-Stoecker religiöse Menschen für besser gewappnet, solche Traumata zu überwinden: „Wenn man es in der Therapie geschafft hat, sich mit dem Trauma auseinanderzusetzen, dann geht es als nächstes darum zu fragen: Wie soll es weitergehen? Da haben gläubige Menschen einen Vorteil. Ihnen fällt es leichter, dass Geschehene als Krise zu verstehen und sich neue Ziele zu setzen. Der Glaube gibt ihnen Orientierung.“
Für Kerstin wird es noch lange Zeit dauern, bevor ihre psychischen Wunden verheilt sind. Sie hat gerade erst begonnen, sich in einem eigenständigen Alltag ohne Bedrohung zurechtzufinden. Immer öfter erlebt sie Momente, in denen sie hoffnungsfroh in die Zukunft blickt: „Das ist wie eine Wiedergeburt. Als würde ich nochmal neu anfangen. Zum Beispiel das Fahrradfahren. Das ist für mich ein Stückchen Freiheit, obwohl ich nach wie vor Angst habe, beobachtet und verfolgt zu werden. So muss ich jeden Tag um meine Freiheit ringen.“
Seit Kerstin wieder lernt, selbst über ihr Leben zu bestimmen, fasst sie neues Vertrauen: Vertrauen in andere Menschen und in Gott. „Ich habe erlebt, dass mir geholfen wird, und ich weiß, dass es für mich nie zu spät ist, mein Glück zu suchen.“