Jessy Wellmer macht auf ihrer aktuellen Reise durch Deutschland Werteverschiebungen und Generationenkonflikte aus. Im Gespräch blickt sie auf gesellschaftliche Herausforderungen und zerstörerische Empörungslust.
Bislang war Jessy Wellmer vor allem in Sachen Verhältnis West und Ost in Deutschland unterwegs. Mit ihrer neuen Doku “Wie zerrissen ist Deutschland?” geht sie jetzt aufs Ganze und sammelt und analysiert Meinungen, Befindlichkeiten und Ängste der Gesellschaft.
Wellmer ist 1979 in Güstrow geboren und wurde einer breiteren Öffentlichkeit zunächst als Sportmoderatorin bei ZDF und ARD bekannt, dreht aber auch schon länger gesellschaftspolitische Dokus wie 2022 “Russland, Putin und wir Ostdeutsche” zusammen mit Falko Kurth. Seit 2023 ist sie eine der Hauptmoderatorinnen der ARD-“Tagesthemen”. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht sie über ein Deutschland im Wandel.
Frage: Frau Wellmer, Sie waren schon zum vierten Mal in Deutschland unterwegs, um der Gesellschaft den Puls zu fühlen. Lässt es sich auf eine gemeinsame Formel bringen, wie es den Menschen in Deutschland, also uns, geht?
Antwort: Ich glaube, es geht vielen Leuten wie mir persönlich. Ja, ich bin “Tagesthemen”-Moderatorin und Journalistin, aber auch Mutter von zwei Kindern, eine Frau Mitte 40. Ich sehe, wie wir alle ringen: Darum, wie unsere Zukunft aussehen kann, wie wir gemeinsam einen Weg gehen könnten, bei dem wir unsere Freiheiten und was wir an unserem Leben schätzen, behalten. Viele machen sich sorgenvoll Gedanken darüber, wovon man sich möglicherweise verabschieden muss. Dieses Ringen miteinander und leider oft auch gegeneinander wird durch die Sozialen Medien extrem verstärkt. Es ist so ein Hadern, was sich ja auch im Titel der Doku “Wie zerrissen ist Deutschland?” wiederfindet.
Frage: Sind diese Zerrissenheit und dieses Hadern denn real und begründet? Soziologen berichten von Umfragen, nach denen 85 Prozent der Menschen sagen, ihnen persönlich und ihren Familien gehe es prima. Wird die gleiche Gruppe befragt, wie es um das Land als Ganzes steht, heißt in fast derselben Größenordnung: “Hier geht alles vor die Wand!” Das passt doch nicht zusammen.
Antwort: Das habe ich auch ganz oft auf dieser Reise erfahren: Den Menschen geht es eigentlich gut, die meisten sind zufrieden. Auch aktuelle Studien über die Stimmung unter jungen Menschen zeigen: Da ist viel Optimismus. Doch dann kommt die Frage nach der Zukunft und der damit verbundene Pessimismus. Ich glaube, das ist ein Hinweis darauf, dass wir von dieser Stufe der Empörung wieder runterkommen und uns mal wieder entspannen sollten. Vielleicht auch, indem wir nicht ständig gucken, was bei Insta, Tiktok oder X wieder hochgejubelt wird.
Frage: Welche Rolle spielen dabei die Medien? Wir fachen durch unsere Berichterstattung viel von dieser Aufregung an. Sollten die Medien da auch abrüsten und sich mal wieder entspannen – statt beispielsweise bei jedem kleinen politischen Streit zu argwöhnen, dass die Bundesregierung spätestens morgen auseinanderfällt?
Antwort: Diese Debatte führen wir bei den “Tagesthemen” relativ oft: Wie kommen wir aus der Rolle raus, nur noch auf Debatten aus den Sozialen Medien zu reagieren? Überspitzt gesagt schaffen wir es kaum noch, selbst zu agieren, und werden dann auch zum Teil einer Empörungsspirale. Dabei müssen wir zur Versachlichung beitragen und dürfen nicht auf diese Empörungslust reinfallen. Alle fahren andauernd hoch und auch wir sagen dann schnell “Das mit der Rente ist ein unlösbares Problem” oder fragen “Ist das jetzt schon der Herbst der Koalition?” Da haben wir im Journalismus alle eine große Verantwortung.
Frage: weit geht denn die Zerrissenheit in Deutschland wirklich?
Antwort: Im Film sehen wir aktuell eine Werteverschiebung, es gibt einen Shift zum Konservatismus, weg von einer progressiven Stimmung. Aber was mir an mehreren Beispielen auch noch klar wurde: Es ist häufig auch einfach ein Generationenkonflikt. Die älteren Leute wollen sich eben nicht verbieten lassen – ich zitiere jetzt – “Zigeunerschnitzel” zu sagen, wenn sie das ihr Leben lang so genannt haben. Und sie sagen auch: Ich will damit doch niemanden beleidigen oder diskriminieren oder bloßstellen, wenn ich das weiterhin sage. Ich will doch einfach nur “Zigeunerschnitzel” sagen. Und dann kommt die Enkelin und sagt: “Aber Oma, ich finde, du verletzt da jemanden”. Das bleibt dann ein Generationenkonflikt, der sich nicht einfach auflösen lässt – gerade nicht in einer älter werdenden Gesellschaft.
Frage: Sie haben auf Ihren bisherigen Reisen vor allem die Unterschiede zwischen Ost und West erkundet. Gibt es auch Gemeinsamkeiten?
Antwort: Im Osten passiert das, was dem Westen auch in ein paar Jahren blühen könnte. Nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung sind viele junge Menschen weggegangen und die Bevölkerung im Osten ist schlagartig gealtert. Vielleicht kommt daher auch die Unzufriedenheit: Die jungen Leute sind weg, die Enkel wachsen woanders auf, die Lebensbilanz ist so lala, der Rücken tut weh, die Zukunft schien auch mal besser …
Frage: Kulturstaatsminister Wolfram Weimer hat kürzlich erklärt, dass in ganz Deutschland die Gefährdung der Demokratie durch Rechtsextremismus die größte Herausforderung sei. Hat er recht?
Antwort: Ich wollte vor allem schauen, was in der Gesellschaft stattfindet: Was verschiebt sich da, ist das eine kleine Kurskorrektur? Geht es beim Gendern beispielsweise “nur” um etwas, was die breite Bevölkerung als bevormundend oder zu progressiv empfunden hat? Oder ist das etwas Größeres, reden wir über völlig neue politische und gesellschaftliche Spielregeln wie in den USA?
Frage: Und was ist das Fazit nach Ihrer Recherche-Reise?
Antwort: Ich sehe die Gefahr, dass extreme Kräfte diese Kurskorrektur für ihre Zwecke ausnutzen könnten. Wie in den USA, wo es den Versuch gab, die Gesellschaft so progressiv wie möglich zu machen und die Achtsamkeit gegenüber marginalisierten Gruppen so zu stärken, dass die Akzeptanz der breiten Bevölkerung überstrapaziert wurde. Genau an dem Punkt haben Trump und seine Leute angesetzt und gesagt: “Ok, dann nutzen wir das jetzt aus und manifestieren komplett neue Regeln.” Diese Gefahr sehe ich eindeutig auch für Deutschland und für unsere Gesellschaft. Und dann steht unsere liberale Ordnung auf dem Spiel.