„Jeder kann an dem Ort, an dem er lebt, die Welt verändern!“ Diese Erfahrung möchte Wolfgang Rall, Religionslehrer aus Angermünde, weitergeben und damit möglichst viele Menschen erreichen. Das ohnmächtige Zuschauen, das „Ich kann sowieso nichts tun“, sei gefährlich, so Rall. Er engagiert sich gegen Extremismus, für ein gewaltfreies, offenes und tolerantes Angermünde. Das gefällt nicht jedem, Anfeindungen gab es in der Vergangenheit etliche. Die haben ihn nicht gebrochen. Man merkt dem 63-Jährigen Energie und Freude an, wenn er von Projekten seiner Schülerinnen und Schüler, von Erfolgen oder mitreißenden Veranstaltungen in der Stadt berichtet.
Manchem ist Angermünde durch Aktionen Rechtsextremer im Gedächtnis. Ende der 1990er Jahre, als Wolfgang Rall hierher kam, waren die „Baseball-Schlägerjahre“. Die Nachwendejahre waren besonders in Ostdeutschland von rechter Gewalt geprägt. Heute ist die rechtsextremistische Partei „Der III. Weg“ ein Player in der Region. Dem will Wolfgang Rall, der evangelische Christ, etwas entgegen setzen. Er nutzt seine Gaben, Ideen und Zeit, um die ihm anvertrauten Jugendlichen und die Stadtgesellschaft zu erreichen und aufzuklären. Rall möchte sie für ein gewaltfreies, tolerantes und weltoffenes Miteinander empfänglich machen.
Gemeinsam engagiert: Das Bürgerbündnis für eine gewaltfreie, tolerante und weltoffene Stadt Angermünde besteht seit 1999
Wolfgang Rall ist eine treibende Kraft bei der Gründung des Bürgerbündnisses 1999 in Angermünde gewesen und hat inzwischen viele Mitstreiter unter diesem Dach zusammengebracht. Absichtlich habe man keinen Verein gegründet, um sich im Interesse der Sache immer wieder neu zu verbünden, eine Gemeinschaft von Einzelpersonen, Parteien, Vereinen und Initiativen zu sein. Der Kontakt zu Geflüchteten und über deren Situation zu informieren, ist seit langem ein, wenn nicht das wichtigste Thema in der uckermärkischen Stadt.
Dass sich Wolfgang Rall gegen Gewalt und Ausgrenzung jeder Art einsetzt, ist ihm wohl mit in die Wiege gelegt worden. Seine Vorfahren mit bessarabischen Wurzeln – eine Region, die heute zur Ukraine und Moldau gehört, – waren bekannt als ein besonders gastfreundliches Völkchen in einem multikulturellen Gebiet. Vielleicht, sinniert Rall, habe er deshalb „pränatales Fernweh“, dem er gern nachgebe.
Arbeit zwischen Leben und Tod: Wolfgang Rall bekam einen Job im Krankenhaus
Das kann der in Rhinow im Havelland Geborene erst seit der Wende so richtig. Eine Gärtnerlehre mit Abitur in Werder/Havel brachte einst nicht die Erfüllung seiner Träume: Den Heranwachsenden zog es nach Berlin. Nicht einfach, doch mit einem Job im Krankenhaus Friedrichshain 1981 ließ es sich bewerkstelligen. Die Arbeit dort zwischen Leben und Tod hat ihm Erkenntnis und Wegweisung bis heute gegeben. Das Geschenk des Lebens überall auf der Welt zu achten und zu schützen, war die fundamentalste.
Wolfgang Rall engagierte sich in der DDR-Umwelt- und Friedensbewegung, versah verschiedene Jobs, war bis 1984 Bausoldat in Saßnitz/Rügen. Er begann ein Theologiestudium am Berliner Sprachkonvikt. Als die Mauer fiel, zog es ihn sofort über den großen Teich: Er organisierte sich ein 14-monatiges Theologiestudium im US-amerikanischen Philadelphia. Auf dem Campus fand er Arbeit: „Fotografie und Öffentlichkeitsarbeit? Kann ich!“, rief er laut, als jemand gesucht wurde: „Und das mit meinem DDR-Englisch!“, sagt er und lacht.
Die Theologie führte Wolfgang Rall zurück nach Deutschland
Dabei hat er viel gelernt, was ihm nützlich ist. Zu seinen Aufgaben jetzt zählen auch das Verfassen von Pressemitteilungen und Einladungen, Fotografieren, Adressverteiler erstellen – beachtliche 400 Ansprechpartner sind in der Datenbank des Bürgerbündnisses. In den USA wäre er gern geblieben. Doch die Theologie führte ihn zurück. An der Humboldt-Universität zu Berlin beendete er sein Studium. Das Sprachenkonvikt war in die Theologische Fakultät dort aufgegangen.
Nach dem Ersten Theologischen Examen folgte die Ernüchterung: Zu viele Absolventen, zu wenig Aussicht auf Pfarrstellen. Inzwischen hatte Wolfgang Rall eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die versorgt werden wollten. Mit dem berufsbegleitenden Studium Religionspädagogik öffnete sich ihm eine Tür, die er neugierig durchschritt. Bei Projektarbeiten an den Schulen reifte die Überzeugung, dass er entsprechend seiner Gaben hier etwas bewegen kann.
Wolfgang Rall gibt projektbezogenen und lebendigen Unterricht
In Schwedt, Prenzlau und Angermünde gab es offene Stellen. „In Schwedt war mal der Armeeknast und Prenzlau war so weit weg von meinen Liebsten in Berlin“, erinnert er sich. Also auf nach Angermünde. Dass er die Stadt gewählt hat, die inzwischen nicht nur im Zentrum aufblüht, tut ihm keinen Moment leid. Bis 2021 unterrichtete Wolfgang Rall hier Religionsunterricht am Einstein-Gymnasium, jetzt am Gymnasium in Schwedt. Sein Unterricht dürfte sich von dem vieler Kollegen unterscheiden.
Im Land Brandenburg gibt es am Gymnasium Religion in den Klassen 7 bis 9 parallel zum Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER). Für die 10. bis 12. Klasse ist kein LER mehr vorgesehen. Deshalb bietet der Lehrer fakultativ Religionsunterricht in Projektform an. Seine Gruppen sind 10 bis 20 Teilnehmer stark, die Projekte beliebt. Vieles, was dabei entstand, hat sich etabliert und vergrößert. Der Lehrer achtet darauf, dass das meiste öffentlich wirken kann.
Mit einem Origami-Video fing es an: Wolfgang Rall betreibt einen YouTube-Kanal
Auszeichnungen mit der „Angermünde Elle“ haben sie drei Mal abgeräumt. Den Preis gibt es für besondere Beiträge zur Entwicklung einer gewaltfreien, toleranten und weltoffenen Stadt Angermünde. Beispielsweise für das Origami-Kranichprojekt: Nach Fukushima erzählte er den Jugendlichen von Sasaki Sadako, einem 12-jährigen Leukämie-Opfer von Hiroshima, das 1.000 Kraniche falten wollte, um einen Wunsch bei den Göttern frei zu haben. Die Schüler wollten sofort Kraniche falten. Die Anleitung im Internet war jedoch schwierig.
Auf Initiative eines Schülers schuf Wolfgang Rall eine Echtzeit-Bastelanleitung, die er mithilfe eines Schülers ins Netz stellte. Das war der Start eines eigenen YouTube-Kanals, der inzwischen voller Projekte, wichtiger Erklärungen und Infos steckt. Jährlich zum Weltfriedenstag am 1. September trafen sich etwa 250 Grundschüler in der säkularisierten Klosterkirche Angermünde mit Ralls Schülern. Sie falteten tausende Kraniche, die, zu langen Ketten gebunden, öffentliche Einrichtungen zierten, um den Wunsch nach Frieden öffentlich zu zeigen.
Vor neun Jahren initiierte das Ehepaar Rall das „Begegnungscafé“ im Gemeindehaus. Die Treffen von Geflüchteten und „Alteinwohnern“ bewiesen, dass der Kontakt bei Essen und Trinken angenehm und interessant ist. Manches Vorurteil ließ sich aus dem Weg räumen.
Ein Herzensprojekt für den Lehrer sind seine jährlichen Gedenkstättenfahrten nach Ausschwitz/Oświęcim. Fünf Tage, langsam und behutsam jenseits der Besucherpfade führt er Jugendliche an das schreckliche Leid heran. Schülerinnen und Schüler gestalteten öffentliche Gedenken vor dem Angermünder Rathaus zum 9. November, zum Holocaust-Gedenktag oder zum 8. Mai mit. Sie putzen regelmäßig Stolpersteine, entfernen rechte Aufkleber an Laternenmästen und verzieren E-Verteilerkästen mit friedlichen Worten.
Von den Auszeichnungen, die Wolfgang Rall empfangen hat, schätzt er die „Pfarrer-Georg-Fritze-Gedächtnisgabe“ des Kirchenkreises Köln-Mitte im Jahr 2020 und das „Band für Mut und Verständigung“ des gleichnamigen Bündnisses im Jahr 2018 besonders. 2024 war er zum Neujahrsempfang des Bundespräsidenten geladen.
Wer Wolfgang Rall in Aktion sehen will: In der ARD-Mediathek ist die Dokumentation „Die Unermüdlichen – Einsatz für Vielfalt in Brandenburg“ verfügbar, wo er einer von vier Porträtierten ist.