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Am Ende Optimist

Ralf Steiner ist unheilbar an Krebs erkrankt. Im Interview spricht der Pfarrer darüber, wie er damit umgeht

Ralf Steiner (55) stammt gebürtig aus Bielefeld und war 20 Jahre lang Gemeindepfarrer in Exter, zuständig auch für Notfallseelsorge und die Autobahnkirche dort. Im Herbst 2020 ist Ralf Steiner unheilbar an Krebs erkrankt. Zunächst machten ihm Rückenschmerzen zu schaffen. Bald stellte sich heraus: Die Ursache waren Metastasen eines Tumors im Gallengang. Es folgten Operationen und Chemotherapien. Aber geheilt werden kann diese Krebserkrankung nicht. Ralf Steiner ist verheiratet und hat fünf Kinder. Seine erste Frau starb vor zehn Jahren an einem Hirntumor. UK-Herausgeber Bernd Becker hat mit ihm über Zeit, Familie, dunkle Momente und den Himmel gesprochen.

 

Wie geht es Ihnen aktuell mit Ihrer Krankheit?
Ralf Steiner: Ich bin durch meinen Onkologen mittlerweile im Palliativnetz eingeschrieben, und da steht ganz klar drin: Wir begleiten Menschen in der letzten Lebensphase. Und da habe ich mich in der letzten Zeit mit auseinandersetzen müssen, dass das jetzt so ist. Dass ich nicht mehr reisen kann und mir vieles nicht mehr möglich ist. Die Uhr tickt unaufhörlich, und ich habe wohl nur noch wenige Monate zu leben. Wobei man in der letzten Phase schwer vorhersagen kann, wann genau es soweit ist.

Wie kommen Sie mit dieser Diagnose zurecht?
Ich nehme die Sache realistisch an und versuche, mit der Zeit, die so kostbar und wertvoll ist, jetzt das Bestmögliche anzufangen. Ich habe mir letztes Jahr direkt eine Liste gemacht mit zehn Punkten, die ich unbedingt noch erleben und erledigen wollte. Die habe ich nun weitgehend abgearbeitet. Ich versuche, mich jeden Tag an irgendetwas zu freuen. Und das gelingt mir ganz gut. Es ist einfach eine Zeit, auf die sich auch meine Frau und meine Kinder einstellen müssen und hoffentlich am Ende sagen können: Das alles haben wir zum Glück noch miteinander gemacht. Das war wertvoll, dass wir noch über manches gesprochen und Dinge geregelt haben. Ich sehe mich da im großen Vorteil gegenüber jemandem, der einfach so vom Auto überfahren wird, und das war’s dann.

Bekommt „Zeit“ also einen anderen Stellenwert?
Ja, die Zeit, die ich noch habe, ist kostbar. Ich kann nicht mehr sagen: Nächstes Jahr hole ich dies oder jenes nach, sondern das nächste Jahr gibt es für mich vielleicht nicht mehr. Was ich dabei nicht so bedeutend finde, ist die Frage, ob ich einen Monat mehr oder weniger lebe. Wichtig ist für mich vielmehr, dass ich mit meiner Zeit noch etwas anfangen kann. Mir ist es wichtig, noch selbstbestimmt leben und meine Tage so gestalten zu können, dass ich jeden Abend sagen kann: Lieber Gott, danke, für alles, was heute schön war.

Was ist Ihnen alles nicht mehr möglich?
Ich kann meinen Beruf nicht mehr ausüben, der im Grunde mein Leben war. Das ist mir durch die Krankheit weggerissen worden. Ich kann auch nur noch wenig laufen und zeitweise nicht essen. Das ist besonders brutal für mich, denn Kochen war immer mein Ding. Aber zum Beispiel kann ich noch selbst zur Toilette und eine Runde durch den Garten gehen. Das klingt vielleicht lächerlich, bedeutet mir aber viel, denn den Garten haben wir erst letztes Jahr selbst angelegt. Es ist eine Riesenfreude zu sehen, wie alles geworden ist.

Sie waren viele Jahre Notfallseelsorger. Hilft Ihnen das heute?
Ich habe immer davon profitiert, dass ich das gemacht habe. Denn dabei geht es ja genau um die Endlichkeit des Lebens und Menschen an Punkten zu begleiten, an denen alles eigentlich ganz furchtbar ist. Mit Blick auf meine eigene Situation ist dann natürlich alles ganz anders. Jetzt bin ich selbst der Notfall und kann mich nicht selbst beseelsorgen. Pastoren können ja vieles, sich aber nicht selbst beerdigen. Da ist man dann auf andere angewiesen. Deshalb bin ich froh, Freunde und ein ganzes Netz von Menschen um mich zu haben, die meine Situation mittragen.

Wie gehen Sie mit den dunklen Momenten um, die Sie erleben?
Manchmal überkommt mich der große Jammer, und die Tränen müssen dann auch mal raus. Ich versuche das aber zu begrenzen und mich darin nicht zu verlieren. Wenn ich alles nur noch negativ empfinden und erleben würde, wäre ja mein Leben in dem Moment schon vorbei. Und dann würde ich auch nicht mehr wollen. Zum Glück kann ich derzeit noch selbstbestimmt viele Dinge regeln. So habe ich jetzt auch für mich entschieden, dass ich nach drei Chemotherapien nicht mehr weiter behandelt werden möchte. Der Preis war mir zu hoch. Dann lebe ich lieber einen Monat weniger, aber dafür noch mit etwas mehr Qualität.

Wie kommt es, dass Sie so viel Zuversicht ausstrahlen?
Es ist wirklich ein Geschenk. Vor zehn Jahren ist meine erste Frau an einem Hirntumor gestorben. Sie war sehr tapfer, Diakonentochter und in Bethel aufgewachsen. Sie hatte so ein Grundvertrauen in Gott und das Leben und dass am Ende alles gut wird. Ich selbst habe immer gedacht, ich wäre in einer ähnlichen Situation überhaupt nicht tapfer; ich würde jammern und mich verlieren. Aber ich bin doch zu einem tapferen Menschen geworden. Als es soweit war, habe ich habe die Dinge realistisch angenommen. Ich achte nun immer darauf, dass ich den Kopf n0ch oben trage und nicht unter dem Arm. Ich empfinde es als ein Geschenk, auch am Ende noch Optimist sein zu können.

Haben Sie eine Vorstellung vom Leben nach dem Tod?
Je konkreter es wird, umso putziger wird es ja. Ich denke zum Beispiel an die Menschen, die schon da sind, wo ich hinreise. Mit denen bin ich jetzt verabredet. Und falls es eine Theke im Himmel gibt, wäre das mein Platz zur Begrüßung. Das wünsche ich mir. Und dann wird auch Bilanz gezogen. Als im vergangenen Jahr die Pandemie kam, da habe ich wirklich gebetet und gesagt: Lieber Gott, das kann nicht sein, dass du mich jetzt hier aus allem rausreißt, und meine letzten Wünsche lassen sich überhaupt nicht mehr realisieren; also mit den Kindern zusammen sein, reisen, überhaupt Gemeinschaft erleben. Vieles davon war ja in den vergangenen Monaten nicht möglich. Da mache ich dann auch mal den Ankläger: Gott, so geht es doch nicht! Ich fand das fies und gemein. Für jemanden, der nicht mehr lange zu Leben hat, spielt das alles doch eine große Rolle.

Wie geht ihre Familie mit der Situation um?
Vier meiner Kinder sind jetzt zum Glück schon erwachsen. Die gemeinsame Zeit ist allerdings immer noch wertvoll und wichtig. Wenn ich jetzt aber sage, ich habe meinen Weg akzeptiert und bin reisefertig, dann finden meine Kinder und meine Frau das nicht so einfach. Deren Situation ist ja eine ganz andere. Sie werden natürlich um mich trauern, und alles wird anders sein, wenn ich nicht mehr bin. Aber so muss es ja wohl auch sein. Wenn keiner um mich trauern würde, das wäre ja auch nichts. Es ist alles nicht einfach, aber es ist, wie es ist.

Was möchten Sie noch an andere Menschen weitergeben?
Es sind diese ganz schlichten Botschaften aus dem Kindergottesdienst: Mein Leben kommt von Gott und geht zu Gott. Ich bin geborgen in Gottes Hand, egal was kommt, egal was passiert. Es wird am Ende alles gut sein. So ein ganz schlichtes Vertrauen in Gott, in das Leben und dass es eine Zukunft gibt – das trägt mich durch. Ganz einfach. Wenn ich denke, ich falle ins Bodenlose, dann sage ich mir: Nein, ich falle nur in Gottes Hand. Das sind so altbekannte Sprüche, die mich aber jetzt tatsächlich tragen. Und deshalb möchte ich jedem gern sagen: Du musst gar keine schlauen Bücher lesen und theologisch besonders gebildet sein, sondern du brauchst nur dieses Vertrauen in Gott und die Bibel. Dass da was dran ist. Viele Menschen haben doch ein bisschen was mitbekommen, im Kindergottesdienst oder von der Oma. Und man soll nicht meinen, wie weit einen das tragen kann. In Vlotho an der Weser habe ich ja zwanzig Jahre Dienst als Pfarrer getan. Da haben sich die Leute außerhalb der Gemeinde eigentlich nie großartig dafür interessiert, was der Pastor Steiner so zu sagen hat. Aber nun wissen alle, er ist sterbenskrank, da werden etwa meine Andachten in der Zeitung ganz anders wahrgenommen. Und viele Menschen schauen nun: Was macht der Gottesmann denn jetzt, wo es ihm an den Kragen geht? Und wie ich höre, sind sie angerührt davon, dass der Gottesmann das macht, was jeder machen sollte: Sich einfach in Gottes Hand fallenlassen.