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99 gute Argumente

Die Kirche darf nicht im eigenen Saft schmoren – von Anfang an hat sie sich die Mission auf die Fahnen geschrieben, also das Rausgehen zu den Anderen. Aber: Das ist nicht die ganze Wahrheit.

Neulich im Wald. Gerade komme ich zurück vom Spaziergang, da sehe ich ihn. Mann. Vermutlich Rentner. Tarnjacke. Regenhut. Fotorucksack. Und ein Fernglas um den Hals.

„Tach“, grüße ich, als er mich passiert. „Auf Fotopirsch?“ Misstrauisch guckt er hoch. „Ja.“ Und geht weiter.
So sind sie, die Ostwestfalen. Aber ich lasse nicht locker. „Was fotografieren Sie denn? Landschaften? Tiere?“ Genervt blickt der Mann sich um. „Vögel.“ Und will weiter. Ich rufe ihm nach: „Um diese Tageszeit? Bei dem Wetter?“

Jetzt glimmt in seinem Gesicht Interesse auf. „Kennen Sie sich aus?“, fragt er. „Ooch, nur so hobbymäßig“, antworte ich. „Aha“, sagt der Mann mit prüfendem Blick, „also ich geh jetzt hoch zum Fichtenwald.“ Pause. Lauernder Blick. „Wintergoldhähnchen.“
Bingo! Das ist natürlich ein Test. Und ich weiß die Antwort: „Donnerwetter! Die gibt es da? Den kleinsten Vogel Europas?“

Das Eis ist gebrochen. Mehr als eine Stunde lang unterhalten wir uns über Wintergoldhähnchen, Schwarzspecht und Waldbaumläufer. Und das bei 5 Grad und einsetzendem Regen.

Zum Abschied gibt es zwei strahlende Gesichter und das wechselseitige Bekenntnis: Das tat so gut, endlich mal mit jemandem zu quatschen, der weiß, wovon ich rede.

Du bist nicht allein. Dieses Gefühl ist überlebenswichtig. Und es ist ein Grund dafür, warum es so viele Vereine gibt. Für zum Teil, sagen wir: außergewöhnliche Leidenschaften. Städte bauen aus Streichhölzern. Schlösser knacken (da gibt es sogar Meisterschaften). Oder Mofas der 70er Jahre restaurieren. Man fühlt sich wohl und verstanden unter Gleichgesinnten. Denn hier erlebe ich: Die teilen meine Begeisterung.

Und das ist auch in der Kirche so.
Natürlich, es ist vollkommen richtig: Wir Christinnen und Christen sollen hingehen zu den Menschen. Raus aus unseren Grüppchen. Das ist ja der Sinn des Wortes „Mission“. Raus aus der bubble (englisch für „Blase“), so sagt es die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Anna-Nicole Heinrich.

Davon spricht auch das biblische Gleichnis von den 100 Schafen: Eines geht verloren. Und der gute Hirte geht ihm nach, setzt alles daran, dieses eine in die Herde zurückzuholen. Ein wunderschönes Bild für den Gedanken: Raus aus der bubble.

Aber – und natürlich muss hier ein „aber“ kommen: Vergesst die anderen 99 Schafe nicht. Was nutzt es, wenn ein Schaf gewonnen wird, – und 99 sind dann plötzlich weg?

Im echten Leben geht es natürlich nicht um Schafe. Sondern um Menschen. In Chören. Bibelstunden. Männervereinen. Der Frauenhilfe. Man kann und wird hier in Zukunft manches anders denken und anders machen müssen. Das geschieht ja auch schon.

Und doch: Diese Gruppen sind Heimat für viele. Das eine tun („Raus aus der bubble!“), und das andere nicht lassen. Das sollte der Weg in die Zukunft sein.

Nicht nur unter Vogelfreunden gilt: Manchmal tut es einfach gut, auf Menschen zu treffen, die meine Begeisterung teilen.