Sie stecken hinter kleinen Türen an der Fußleiste: In vielen Familien sind in diesen Tagen wieder die Wichtel eingezogen und hinterlassen ihre Spuren. Bei John (9), Lea (6) und Fiete (2) aus Bad Oldesloe hat ein Wichtel vergangene Nacht Dutzende Walnüsse in der Wohnung verteilt und Socken in Brotdosen versteckt. Oke heißt er, schon Wochen vor Weihnachten haben die drei Geschwister eine kleine Laterne ins Fenster gestellt. „Damit er den Weg findet“, sagt Lea. Auch bei vielen anderen Kindern aus ihrer 1. Klasse sind die unsichtbaren Wesen eingezogen.
Seit einigen Jahren sind in Deutschland die Wichtel los. Die unsichtbaren Wesen leben der Vorstellung nach hinter einer Mini-Tür, die an Wand oder Fußleiste befestigt wird und reichlich Platz für Kinderfantasien lässt. Eltern dekorieren die Tür mit Fußmatte, Schlitten und Postkasten im Puppenstuben-Stil und übernehmen die Wichtel-Rolle: Sie schreiben vorweihnachtliche Briefe, fordern Kinder zum Malen auf, überbringen kleine Geschenke, spielen kleine Streiche und hinterlassen viel Glitzer.
Wichteltüren und Accessoires liegen in Deutschland im Trend
Der Brauch kommt aus Skandinavien. Es heißt, dass die kleinen, hilfsbereiten Wesen nachts die Bewohner des Hauses beschützen. Mittlerweile gibt es auch hierzulande Wichteltüren und Accessoires an jeder Ecke zu kaufen. Die dänische Kette Søstrene Grene hat solche Sets bereits seit einigen Jahren im Sortiment. Wichteltüren seien „definitiv ein Trend“, hieß es vom Unternehmen aus Aarhus. Viele Kunden würden die Wichteltür über die Jahre mit immer neuen Accessoires verschönern.

Wie das aussieht, zeigen vor allem Social Media-Kanäle wie Instagram und TikTok. Hier wimmelt es nur so von kleinen Wichteltüren, Mini-Strickleitern oder millimetergroßen Spiegeleiern. #Wichtel oder #Wichteltür erzielen unzählige Treffer. „In diesem Jahr ist der Hype besonders groß“, beobachtet Autorin und „Wichtelexpertin“ Elli Böttcher aus dem hessischen Eltville. Familienblogger und Momfluencer hätten das Thema für sich entdeckt. Auch Böttcher ist mit rund 173.000 Followern erfolgreich auf Instagram; über ihren Online-Shop verkauft sie selbstgebaute Türen und gibt Basteltipps.
Wichtel-Tradition: Skandinavische Bräuche treffen auf US-Influencer
In Deutschland vermische sich die skandinavische Tradition mit der US-amerikanischen „Elf on the Shelf“-Figur, die gerne Streiche spielt. So kleckern Wichtel nachts mit Schoko-Creme auf dem Tisch, rollen Klopapier ab oder schmücken Fenster weihnachtlich. „Mütter wünschen sich, für ihre Kinder einen Zauber zu schaffen“, sagt Böttcher. Dabei sei im durchgetakteten Alltag oft wenig Zeit für Zauber.
Ihr Rat: Wer einen Wichtel einziehen lässt, sollte es langsam angehen lassen, um kleine Kinder und sich selbst nicht zu überfordern. Regeln gebe es keine. Wann und wie der Wichtel aktiv sei, könne jeder so gestalten, wie er will. „Vielleicht tut er ja Dinge, die sowieso gemacht werden müssen, etwa Keksteig vorbereiten“, erzählt die zweifache Mutter. Der neueste Trend sei, dass immer mehr Eltern ihre Wichteltür fotografierten, um mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) ein Wichtelfoto zu erstellen.
Eltern zwischen Adventsstress und Wichtel-Wettbewerben
Dass gerade in Zeiten hoher Unsicherheit und starker Komplexität kleine Wichteltüren gefragt sind, ist kein Zufall: „Es kann eine schöne, kleine Flucht aus dem Alltag sein, sich selbst eine kleine Wichtel-Welt zu erschaffen“, sagt Silvana Weber, Kommunikationspsychologin an der Universität Würzburg. Die Magie, der Zauber und die Kreativität seien etwas Positives. Auf der anderen Seite hätten Eltern in der Adventszeit schon genug Stress und würden zusätzlich unter Druck gesetzt, mithalten zu müssen.
Auf Instagram oder TikTok kursieren regelrechte Wichtel-Wettbewerbe: Wer hat die schönste Tür, die süßesten Accessoires, den kreativsten Wichtel? „Ein wichtiger Faktor auf Social Media sind immer soziale Vergleichsprozesse“, sagt Weber. Wer dazu neige, fühle sich oft durch vermeintlich perfekte Inszenierungen stärker unter Druck gesetzt. „Bedenklich wird es, wenn negative Gefühle, zum Beispiel ein Gefühl der Unzulänglichkeit, daraus resultieren“, findet die Expertin.
Wichtel als Inspirationsquelle statt Vergleichsmaßstab
Hilfreich sei, vor allem seine eigene Haltung zu verändern: Statt sich zu vergleichen oder nachzuahmen, sollten die Inhalte als Inspirationsquelle gesehen werden. Weber: „Am wichtigsten ist, sich immer wieder zu sagen: Ich muss nicht perfekt sein.“ Wem der Wichtelrummel zu viel wird, der kann auch mal Pause machen. Dann kümmert sich der magische Freund draußen um Eichhörnchen oder hat einfach frei.
Bei John, Lea und Fiete kam das auch schon vor. „Unser Wichtel hat ja auch immer so viel zu tun“, sagt die sechsjährige Lea verständnisvoll und streicht über die kleine Tür. „Da braucht er auch mal Urlaub“.
