Wir leben „in Zeiten einer turbulenten Veränderungsdramatik“, sagt der langjährige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Anlässlich seines 80. Geburtstages spricht der SPD-Politiker im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) über Gefahren für die Demokratie, eine Ostquote und die Grenzen von Toleranz.
epd: Bei den kürzlichen Landtagswahlen in Hessen und Bayern war ein Rechtsruck zu erleben. Die AfD hat hohe Ergebnisse erzielt. Manche hat das überrascht. Muss man nun erst recht bang auf die Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern im nächsten Jahr schauen?
Wolfgang Thierse: Mich haben die Wahlergebnisse in Hessen und Bayern nicht so überrascht. Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und AfD sind kein ostdeutsches Problem. Es ist dort nur schneller sichtbar geworden aus Gründen, die ich erklären kann.
epd: Nämlich wie?
Thierse: Wir erleben Populismus und Extremismus, weil wir in Zeiten einer turbulenten Veränderungsdramatik stecken. Globalisierung, Migration, demografischer Wandel, Künstliche Intelligenz, Digitalisierung und vor allem die Verhinderung der Klimakatastrophe: All das verlangt Änderungen nicht nur der Politik, sondern auch der Produktions- und Konsumtions-, ja der ganzen Lebensweise. Das trifft auf Menschen, die angesichts dieser Dramatik verunsichert sind, Zukunftsängste, Entheimatungsbefürchtungen, Abstiegsängste haben. Sie werden empfänglich für die einfachen Botschaften der Populisten, die schnelle Antworten versprechen. Das kann Demokratie nicht. Sie ist ihrer inneren Natur nach langsam. Demokratie kann keine Wunder liefern.
epd: Und warum wird das im Osten schneller sichtbar, wie Sie es formulieren?
Thierse: Weil die Menschen dort in den vergangenen 30 Jahren schon so viele Veränderungen erlebt haben. Dazu gehörten Schmerzen und Opfer. Und jetzt kommt die nächste Welle.
epd: Demokratie lebt von Kompromissen. Warum gelingt das nicht mehr?
Thierse: Es gelingt, es ist nur mühseliger und komplizierter geworden, weil wir in einer pluraleren Gesellschaft leben. Das ist aber auch so, weil die Gleichzeitigkeit der vielen Probleme derzeit dazu führt, dass die Lösung eines Problems die Verschärfung eines anderen zur Folge haben kann. Ein Beispiel: das Wohnungsproblem. Wir müssen mehr und schneller bauen. Um das zu schaffen, senken wir ökologische Standards – und verschärfen damit ein anderes Problem. Ich will bei der schwierigen Situation aber auch die Rolle der Medien nicht vergessen. Es irritiert mich, dass Journalisten nicht begreifen, dass sie den Ast absägen, auf dem sie selbst sitzen.
epd: Wie meinen Sie das?
Thierse: Sie sind mitverantwortlich für diese gefährlich-kritische Stimmung gegenüber der Demokratie und den demokratischen Politikern. Aufgabe der Medien wäre es, komplexe Sachverhalte und Probleme ins Verständliche zu übersetzen. Weil das mühselig ist, setzen sie lieber auf Streit, Personalisierung, Zuspitzung und Skandalisierung. Damit wird ein eher negatives Bild von Demokratie vermittelt, das bei den Leuten Abwehr und Ablehnung erzeugt und eine latent demokratiefeindliche Stimmung mitbefördert. Selbst bei den seriösen Zeitungen hatte ich beispielsweise Probleme herauszufinden, was beim Heizungsgesetz das Sachproblem war.
epd: Das Besondere ist doch aber, dass Streit inzwischen nicht nur zwischen Regierung und Opposition ausgefochten wird, sondern zunehmend in der Regierung selbst. Können Sie die Ampelkoalition da gänzlich aus der Verantwortung für die Stimmung nehmen?
Thierse: Nein, ausdrücklich nicht. Tatsächlich verstehe ich nicht, dass es in der Ampel nach streitiger Debatte Kompromisse gibt, die dann von der FDP wieder aufgekündigt werden. Das erstaunt mich, denn Opposition in der Regierung zu spielen, führt immer wieder zu Wahlniederlagen. Das schadet aber nicht nur denen, die es betreiben, sondern am Ende der Demokratie.
epd: Vor diesem Hintergrund noch einmal die Frage nach den Wahlen in Ostdeutschland: Könnte da nicht endgültig die demokratische Kultur kippen?
Thierse: Ich bin kein Prophet, aber eines weiß ich: Die Regierung und die demokratische Opposition haben die Aufgabe, die Probleme schrittweise zu lösen, die ursächlich sind für die Verunsicherung. Das andere ist aber auch: Die Verteidigung der Demokratie muss Sache der Bürger sein. Ein beträchtlicher Teil der Ostdeutschen schleppt immer noch diesen Minderwertigkeitsrucksack mit.
epd: Was meinen Sie damit?
Thierse: Immer noch guckt man dort nach Westen und nimmt nicht wahr, was in den vergangenen 30 Jahren positiv im Osten passiert ist. Es kommt beispielsweise nicht an, dass die Renten angeglichen sind. Verstärkt wird dieses Gefühl durch Veröffentlichungen wie das Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ von Dirk Oschmann. Immer ist der Westen schuld! Diese autoritäre Prägung ärgert mich, denn Schuldzuweisungen fördern nicht ostdeutsche Selbstkritik und auch nicht ostdeutsches Selbstbewusstsein.
epd: Was meinen Sie mit „autoritärer Prägung“?
Thierse: In der DDR konnte kaum eine selbstbewusste Bürgerschaft entstehen, weil nichts mehr verdammt war als Selbstverantwortung. Alles stand unter der Führung von Staat und Partei. Man konnte Eingaben einreichen. Jetzt gibt es Eingaben und Wut an den Westen, nach der eigenen Verantwortung wird weniger gefragt. Das ist in bestimmter Weise autoritäres Verhalten.
epd: Bei Rente oder Vermögen mögen Unterschiede auch nach 33 Jahren noch erklärbar sein, bei anderen Kennziffern scheint dies schwieriger, Stichwort: Repräsentanz in Führungspositionen. Brauchen wir eine Ostquote?
Thierse: Dass Ostdeutsche lange Zeit kaum in Führungspositionen gekommen sind, ist erklärbar: Es gibt keine Revolutionen ohne Personal- und Elitenwechsel. Wir wollten die SED-Juristen und die SED-Journalisten loswerden und Leute in der Wirtschaft haben, die mehr von Markt- als von Planwirtschaft verstehen. Mit einer gewissen Verzögerung müsste das nun durch die Nachwachsenden wirklich und endlich ausgeglichen werden. Ob dabei nach 30 Jahren noch eine Ostquote hilft, da bin ich etwas zögerlich.
epd: Polarisierung zeigt sich heute auch deutlich in der Flüchtlingspolitik. Das war allerdings in den 90er Jahren nicht anders, oder?
Thierse: Nach 2015 müssten wir ja eigentlich eine Lernkurve in der Flüchtlingspolitik hinter uns haben, nämlich dass die Zahlen hochschnellen können und dass es darauf keine einfachen Antworten gibt. Aber die Verführung ist riesig, darauf immer wieder einfache Antworten geben zu wollen, im Sinne von Schuldzuweisungen oder radikalen Forderungen, die realistischerweise nicht einlösbar sind.
epd: Welche Antworten gäbe es denn stattdessen?
Thierse: Wir müssen uns darauf verständigen, dass es Begrenzungen geben muss. Das meint weniger eine konkrete Zahl, sondern auch strenge Regeln insgesamt. Wer zu uns kommt, kommt nicht in ein leeres Land. Wir haben sprachliche, geschichtliche und kulturelle Prägungen. Und wir können erwarten und verlangen, dass derjenige, der zu uns kommt und hierbleiben will, sich darauf einlässt. Dazu zählt auch die Erinnerung an den Holocaust und die Verpflichtung daraus. Woran in diesen Tagen besonders zu erinnern ist.
epd: Die Kirchen versuchen Räume für die sich verschärfenden gesellschaftlichen Debatten zu schaffen, scheinen damit aber immer weniger Erfolg zu haben. Woran liegt das?