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“Wir brauchen eine atmende Kirche”

Das Parlament der Bremischen Evangelischen Kirche hat Pastor Bernd Kuschnerus (62) am Mittwoch im Amt des theologischen Repräsentanten, das jetzt Kirchenpräsident heißt, mit großer Mehrheit für weitere sechs Jahre bestätigt. Es wird eine Amtszeit in Krisenzeiten. Um die Zukunft mit weniger Mitgliedern und abnehmenden Finanzmitteln erfolgreich gestalten zu können, brauche es eine „atmende Kirche“, sagte Kuschnerus dem Evangelischen Pressedienst (epd). Ein Gespräch über Herausforderungen, Menschlichkeit in Zeiten des Populismus und das Verhältnis von Glaube und Politik.

epd: Herr Pastor Kuschnerus, Sie sind sechs Jahre Schriftführer und damit theologischer Repräsentant der Bremischen Evangelischen Kirche gewesen, nun für weitere sechs Jahre wiedergewählt worden. Nach der neuen und seit Jahresbeginn gültigen bremischen Kirchenverfassung heißt das Amt jetzt Kirchenpräsident. Wie fühlt sich der neue Titel an?

Bernd Kuschnerus: Das ist erstmal total ungewohnt. Ich habe in der Vergangenheit natürlich die Erfahrungen gemacht, dass die meisten Menschen die Bezeichnung „Schriftführer“ überhaupt nicht verstehen. Da gab es viele Missverständnisse, beispielsweise die Frage, warum die Kirche einen Protokollführer zum Termin schickt und keinen leitenden Theologen. Das wird jetzt verständlicher und für die meisten Leute klarer.

epd: Jetzt also eine weitere Wahlperiode als leitender Theologe – wo liegen die Herausforderungen?

Kuschnerus: Wir haben in der zurückliegenden Session einige handfeste Krisen gehabt. Das reichte vom Streit um die Äußerungen von Pastor Olaf Latzel, dem Homophobie vorgeworfen wurde, über die Corona-Pandemie, die Energiepreiskrise, die Diskussion um das Kirchenasyl bis zur sexualisierten Gewalt in der Kirche. Unsere Gemeinden werden kleiner, sie verlieren Mitglieder und Finanzmittel. Die Kirche wird ihre Gestalt verändern müssen, da sind Veränderungen, Schwerpunktsetzungen, experimentelle Formen gefragt, die mit Zuversicht umgesetzt werden müssen. Wir brauchen eine atmende Kirche, die aktiv mit den anstehenden zweifellos großen Aufgaben umgeht und nicht wie das Kaninchen vor der Schlange sitzt. Das ist eine Herausforderung.

epd: Was könnte das konkret bedeuten?

Kuschnerus: Da gibt es bereits gute Ansätze in unseren Gemeinden und Einrichtungen, besonders experimentell in der Studierendengemeinde oder in der Kirche in der Überseestadt, die auf neuen Wegen versuchen, Gemeinschaft und sozialen Zusammenhalt zu stiften. Gute Beispiele sind auch mehr Zusammenarbeit in den Regionen oder Tauffeste, die zukünftig stadtweit organisiert werden. Überhaupt wollen wir neu auf Menschen zugehen, mit einer Anlaufstelle, die Wesersegen heißt. Wir wollen es den Menschen leicht machen, Segenserfahrungen zu machen, bei Trauungen, Trauerfeiern und anderen Übergangsstellen des Lebens. Erfolgreich in dieser Hinsicht waren schon spontane „Trauungen to go“ in Bremerhaven. Wenn die Leute mit einem besonderen Wunsch kommen, sollte die Kirche nicht selbstgerecht die Türen schließen. Wenn wir den Kern klar haben, das Evangelium und die Menschenfreundlichkeit Gottes, dann ist da ein großer Spielraum in den Formen. Gott liebt die Vielfalt.

epd. Was ist mit dem Thema sexualisierte Gewalt, das die Kirche nun schon seit einigen Jahren beschäftigt?

Kuschnerus: Wir dürfen keinen Platz für Gewalt lassen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Kirche ein sicherer Ort ist, strukturell und von der Haltung her. Das ist nicht erledigt, das ist eine Aufgabe, die uns bleibt. Menschen fördern statt überwältigen, ein machtsensibler Umgang miteinander, darum geht es, das müssen wir fortlaufend im Auge behalten, unter anderem in der Ausbildung und in Schulungen Mitarbeitender.

epd: Was kann die Kirche für die Stadt tun?

Kuschnerus: Unter dem Dach der Kirche gibt es viele verschiedene Milieus. Weil das so ist, haben wir die große Chance, Diskussions- und Gesprächsräume zu schaffen, in denen wir in einer möglichst guten Atmosphäre verschiedene Positionen diskutieren können, ohne zu polarisieren. Es kann nicht darum gehen, rechtspopulistischen Meinungen Plattformen zu bieten. Aber es muss möglich sein, zugleich mit sehr konservativen und sehr progressiven Menschen zu sprechen. Das betrifft alle Fragen, die uns jetzt beschäftigen: Frieden, Krieg in Europa, Aufrüstung, Migration, Klimakrise und Klimagerechtigkeit. Gemeinsam gegen alle destruktiven Kräfte von Autoritarismus, Halbwahrheiten, Polarisierung antreten, menschlich sein da, wo die Menschlichkeit mit Füßen getreten wird: Das ist uns wichtig. Ich wünsche mir, dass wir für den Dialog Formate entwickeln, in denen man wirklich versucht, sich zuzuhören und zu schauen: Wo steckt das Körnchen Wahrheit in der Meinung des anderen?

epd: Kann dabei die besondere Struktur der bremischen Kirche als einzige Landeskirche Deutschlands ausschließlich im städtischen Umfeld helfen?

Kuschnerus: Ohne Zweifel. Wir sind als Kirche ein Solidaritätsnetz, das in jedem Stadtteil vertreten ist und in dem viele Menschen einen Beitrag leisten, haupt- und ehrenamtlich. Und wir haben eine Diakonie. Mit sozialen Projekten wie den erfolgreichen „Orten der Wärme“ sind wir selbst aktiv – und in der politischen Lobbyarbeit für benachteiligte Menschen.

epd: Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hat kritisiert, die Kirche mische sich zu sehr in tagespolitische Fragen ein und solle sich mehr sinnstiftend engagieren. Wie sehen Sie das?

Kuschnerus: Du sollst Gott von ganzem Herzen lieben und deinen Nächsten wie dich selbst: Das ist die Botschaft, das ist der Kern unserer Spiritualität, das ist die Sinnstiftung. Wenn ich meinen Nächsten lieben soll wie mich selbst, dann kann das ja nicht ohne Folgen bleiben. Die Kirche trägt diese Haltung ein in den gesellschaftlichen Diskurs. Und sie trägt sie nicht nur ein, sie wird auch selbst aktiv. Das ist ihre Aufgabe. Wir sind keine politische Partei, aber wir haben einen Glauben, der politische Wirkung hat. So gesehen kann es die Kirche gar nicht vermeiden, politisch zu sein. Tätige Nächstenliebe und der Glaube an Gott gehören unmittelbar zusammen. Das ist die Botschaft Jesu.