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Wenn Unglücke das Gute im Menschen hervorbringen

Drei Jahre liegt die Ahrtal-Flut zurück, und hat bei aller Tragik Menschen näher zusammen rücken lassen. Fachleute sehen ein bemerkenswertes Beispiel für gelebte Empathie.

Gemeinsam packten die Menschen in Bayern nach der Flut im Juni an
Gemeinsam packten die Menschen in Bayern nach der Flut im Juni anImago / Wolfgang Maria Weber

Präzisere Warnsysteme, Hochwasserschutz auch an kleineren Gewässern, Übungen für den Ernstfall: Seit dem folgenschweren Hochwasser, das im Ahrtal vor drei Jahren mehr als 180 Menschen das Leben kostete, hat sich viel getan. Dennoch könne keine Hochtechnologie vollständig vor dem Hereinbrechen von Naturgewalten schützen, sagt der Soziologe Marcel Schütz: “Wir können noch so modern und innovativ werden, wir müssen damit leben, dass wir das natürliche System des Wetters nicht beherrschen können.”

Das zeigte sich zuletzt auch im Saarland, in Bayern und Baden-Württemberg. Schütz erinnert zudem an den historischen Umgang mit großen Unglücken: “Von alters her wurden Fluten, Beben, Dürren oder Stürme als göttliche Strafe für die Sünden der Welt erfahren.” Bis heute sprächen viele Menschen von der “‘Rache der Natur’, davon, dass sie sich ‘Bahn bricht’ oder etwas ‘zurückholt’.”

Katastrophen: Was die Perspektive änderte

Geändert habe sich diese Perspektive mit dem Erdbeben von Lissabon 1755 – für Philosophen ein Anlass zur Frage, wie ein gütiger Gott das Übel in der Welt zulassen könne. Auch gab die Katastrophe, die die portugiesische Hauptstadt fast vollständig zerstörte und mehrere zehntausend Todesopfer forderte, einen Anstoß zur Entwicklung der Erdbebenforschung. Man habe damals begonnen, Katastrophen als Ereignis zu begreifen, die “praktischer Bewältigung” bedurften, erklärt der Professor für Organisation und Management an der Hamburger Northern Business School.

Als das Ausmaß der Zerstörung im Ahrtal bekannt wurde, war nicht nur die Anteilnahme riesig, sondern auch die Spendenbereitschaft und die konkrete, praktische Unterstützung. Hilfsorganisationen und Behörden baten bald darum, nicht einfach mit Schaufel und Gummistiefeln in die Region zu kommen, weil die Hilfsbereitschaft kaum noch koordinierbar war. Diese gelebte Empathie sei bemerkenswert gewesen, sagt Sina Haghiri. Der Psychotherapeut hat jüngst ein Buch über Nachsicht und Empathie veröffentlicht.

In diesem Jahr wiederum reisten Menschen aus dem Ahrtal in den Süden, um zu helfen. Braucht es also mitunter schreckliche Ereignisse, um das Gute im Menschen hervorzubringen? Nein, sagt Haghiri. Gutes geschehe “die ganze Zeit” und oft ohne dass es auffalle: “Millionen Menschen können in Großstädten aufeinanderhocken, ohne sich gegenseitig permanent an die Gurgel zu gehen – das drängt sich aber in der Wahrnehmung weniger auf.”

Allerdings zögen Extremsituationen viel Aufmerksamkeit auf sich. Die Hilfe finde viel Beachtung, weil die vorangegangene Katastrophe selbst so viel Aufmerksamkeit gebunden habe, erklärt der Therapeut. Soziologe Schütz ergänzt: Katastrophen “konzentrieren eine zergliederte Welt auf einen bestimmten Ort, Zeitpunkt und Umstand.” Früher hätten Literaten und Maler diese Eindrücke festgehalten, heute folgten die Menschen gebannt den Sondersendungen.

Hochwasser: Anteilnahme hat Kehrseite

Diese unheimliche Faszination sei zweischneidig, fügt Schütz hinzu. “Man will eigentlich nicht vom Leid anderer Menschen ‘unterhalten’ werden. Andererseits wollen wir schon wissen, weshalb und wie spektakuläre Dinge passieren.” Auch Mitgefühl und das Hineinversetzen in die Betroffenen spielten eine Rolle. “Nicht umsonst sind Katastrophenfilme und TV-Dokus über schwere Unglücke gefragt. Sie thematisieren existenzielle Erfahrungen.”

In Regensburg rief die Stadt wegen des Hochwassers den Katastrophenfall aus
In Regensburg rief die Stadt wegen des Hochwassers den Katastrophenfall ausImago / Panama Pictures

Diese Anteilnahme kann eine Kehrseite haben. Haghiri verweist auf “Compassion Fatigue”, zu deutsch etwa “Mitgefühls-Müdigkeit”. Ursprünglich habe sich dieser recht neue Begriff auf Pflegekräfte bezogen, auf eine Berufsgruppe also, die dauerhaft im Kontakt mit leidenden Menschen ist. “Nun wird darüber diskutiert, ob über die Sozialen Medien, den permanenten Zugriff auf das Leid der ganzen Welt, nicht ein ähnliches Phänomen entstehen kann.” Wer durch eine Dauerbeschallung abstumpfe oder sich zurückziehe, werde passiv und damit unfähig, anderen zu helfen. “Davon hat niemand etwas”, warnt der Experte.

Mehr Empathie gefragt

Bezogen auf die gesamte Gesellschaft, sei jedoch eher mehr Empathie gefragt, betont Haghiri – und sogar Nachsicht, die einen Schritt weitergehe. “Mit Nachsicht fälle ich ein mildes Urteil über die Absichten anderer, vor allem, wenn es um Fehlverhalten geht”, erklärt der Autor: “Ich gehe eher von einer Unzulänglichkeit oder einem Missverständnis aus als von einer bösen Absicht.”

Studien zeigten die Wechselwirkung zwischen dem Wohlergehen von Einzelnen und dem der ganzen Gesellschaft: “Diejenigen, die freundlich zu anderen sind, sind meist auch am freundlichsten zu sich selbst – und wenn Menschen auf sich selbst achten, haben sie auch mehr Kapazitäten, um anderen gegenüber nachsichtig zu sein.”

Wer eine Katastrophe überlebt oder eine schwere Krankheit überstanden hat, berichtet oft von einer Fokussierung auf das Wesentliche. Haghiri rät dazu, dies im Alltag zu üben: “Wenn zum Beispiel der Familienausflug nicht nach Plan läuft, weil die Bahn ausfällt – dann kann man sich den ganzen Tag ärgern. Oder man hält sich vor Augen, dass es doch um die gemeinsame Zeit geht, die man auch anderswo verbringen kann.” Der Mensch habe ohnehin weniger unter Kontrolle, als man in der heutigen Zeit glaube – insofern sei es nützlich, flexibel zu bleiben.