„Komponieren, das ist eigentlich ganz einfach, man muss nur die Töne weglassen, die einem nicht gefallen“, sagte Wolfgang Rihm einmal in Anlehnung an Claude Débussy. Doch Rihm war keiner, der es sich einfach machte. Eine Komposition sei ein neues Kunstgebilde, wie eine Skulptur, schrieb er in einem Essay: „Ich bin ein Bildhauer, der das Material in die Hand nimmt und es zum Leben bringen muss.“ Am Samstag (27. Juli) ist Rihm in Ettlingen bei Karlsruhe im Alter von 72 Jahren gestorben.
Wolfgang Rihm zählt zu den bedeutendsten Komponisten der Gegenwart. Mehr als 500 Werke hat er komponiert – die Bandbreite der musikalischen Formen und des Materials ist riesig, von Kammermusik bis zu Werken für Orchester und Musiktheater.
Jedes Werk habe seine ganz eigene Aussagekraft, würdigte ihn der Dirigent und Pianist Christoph Eschenbach 2005 in einer
Filmdokumentation. „Es ist nie etwas, das an der Oberfläche bleibt, es geht immer gleich in die Tiefe, in die Aussagekraft.“ Zugleich gebe es bei Rihm alle Kompositionselemente, die man sich nur vorstellen könne – von dramatischen zu ganz lyrischen Stücken. „Wolfgang Rihm ist einmalig, weil er eine ganz eigene Sprache hat – und sich in dieser Sprache immer wieder verwandelt“, sagt Eschenbach.
Gefragt, ob die Musik ihn stets begleite, antwortete Rihm vor seinem 70. Geburtstag dem Evangelischen Pressedienst (epd), er sei selbst ein ständiger Begleiter der Musik. Die Corona-Pandemie aber habe ihn gelähmt und seine Arbeitsintensität eingeschränkt, weil die „Echo-Räume“ weggebrochen seien. „Ton-Konserven“ seien keine Alternative. Sie transportierten nur ein Gerücht von der Sache: „Musik ist nur dann etwas Wirkliches, wenn sie gemacht und vernommen werden kann.“
Schon als Kind wollte Rihm etwas hervorbringen und hat dies in verschiedenen Künsten getan. Das Komponieren kam spät dazu, wie er sagte. In seiner Kindheit habe ihn die Musik manchmal zu Tränen gerührt. Er erinnerte sich an die Schnitzfigur des„Bassgeigenmännles“: eine Spieluhr, die den Walzer „Die Schlittschuhläufer“ von Émile Waldteufel spielte, was ihn sehr bewegt habe, besonders, wenn die Spieluhr immer langsamer geworden sei.
Als Elfjähriger begann Rihm, erste Stücke zu schreiben. Schon während der Schulzeit studierte er Komposition bei Eugen Werner Velte in Karlsruhe. Später studierte er bei Karlheinz Stockhausen in Köln und Klaus Huber in Freiburg. Nachdem er an der Musikhochschule in München Komposition unterrichtet hatte, übernahm Rihm 1985 die Kompositions-Professur seines Lehrers in Karlsruhe. Ein erstes Werk, mit dem Rihm Aufmerksamkeit erzielte, war das 1974 bei den Donaueschinger Musiktagen aufgeführte Orchesterstück „Morphonie – Sektor IV“. Im selben Jahr erhielt er dafür den Kompositionspreis der Stadt Stuttgart.
Zahlreiche Auszeichnungen folgten, darunter der Ernst von Siemens Musikpreis. 2017 erhielt er den Preis der Europäischen Kirchenmusik der Stadt Schwäbisch Gmünd. In der Begründung der Festivalleitung hieß es: „Sein Aufgreifen spiritueller Texte verbindet Wort und Ton zu einer überzeugenden Einheit, die stets den Menschen im Blick hat, wesentliche Fragen reflektiert und emotional ergreift.“ 2018 wurde er mit dem Preis der ökumenischen Stiftung Bibel und Kultur im Bereich Bibel und Komposition ausgezeichnet.
Rihm selbst bezeichnete sich als „geduldeter Gast im Gebiet der Religion“. Er räume dem Glauben selbst keinen Raum ein, wohl aber dem „Wissen vom Menschen, das der Glaube in sich führt“. Seine Werke drehten sich um den leidenden Gott, denn „dass der christliche Gott leidensfähiger Gott ist, macht die Vorstellung von ihm zur komplexesten menschlichen Erfahrung“, sagte er. „Die Vorstellung dagegen von einer sieghaften Gestalt ohne Empathie würde ihn zu einer Art Voodoo-Gespenst verkleinern.“
Was er selbst gerne weitergeben wollte? – Zuversicht und, aus seinem Mund vorsichtig formuliert: „das, was man Gottvertrauen nennen könnte“. Außerdem hob Rihm die Kritikfähigkeit hervor – als Fähigkeit, unterscheiden zu können, zum Beispiel zwischen Mode und Substanz.
Vor acht Jahren erkrankte Rihm an Krebs. Die letzten sechs Wochen vor seinem Tod verbrachte er in einem Hospiz in Ettlingen bei Karlsruhe, wie die Familie dem Evangelischen Pressedienst (epd) bestätigte. Wichtig war dem Vater von zwei Kindern, das Leben zu teilen. Dazu zitierte er einen Bibelvers aus dem Predigerbuch: „Denn weh’ dem, der allein ist.“ (1709/28.07.2024)