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Warum Magdeburg Vorreiter der Reformation war

Vor 500 Jahren, im Jahr 1524, reiste der Reformator Martin Luther (1483-1546) nach Magdeburg und brachte mit einer Predigt am 26. Juni in der Johanniskirche die Reformation entscheidend voran. Vom 26. bis 28. Juni wird sich anlässlich dieses Jubiläums am selben Ort eine internationale theologische Tagung mit dem Thema „Großstadt und Reformation“ befassen. Professor Christoph Volkmar, Vorsitzender der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt, ist einer der Organisatoren. Der Leiter des Magdeburger Stadtarchivs ist zudem ein Kenner der Reformationsgeschichte.

epd: Warum ist Luther gerade nach Magdeburg gereist? Wieso war ihm die Stadt so wichtig?

Christoph Volkmar: Das hatte einerseits lebensweltliche Motive. Er war bekanntlich als Schüler in Magdeburg gewesen. 1524 kam er auf Einladung seines früheren Schulfreundes Nikolaus Sturm, den er von der Domschule kannte und der inzwischen Bürgermeister von Magdeburg war, in die Stadt. Ich denke aber, der eigentliche Grund war, dass Magdeburg eine europäische Metropole war – das Berlin des Mittelalters, die eine Großstadt im Osten des Reiches. Wenn die Reformation sich hier durchsetzen würde, dann wäre das ein ganz entscheidender Schritt, wird sich Luther gedacht haben. Es war also auch eine strategische Entscheidung. Luther hat beispielsweise die Neubesetzung der Pfarrkirchen in der Stadt entscheidend mit begleitet. Mit Nikolaus von Amsdorf (1483-1565) hat er einen seiner wichtigsten Mitstreiter nach Magdeburg geschickt, der immerhin eine volle Professur in Wittenberg hatte. Auch die Auflösung des damaligen Augustiner-Eremitenklosters, also der heutigen Wallonerkirche, hat Luther eng begleitet. Das ist ein bis heute nachwirkender Vorgang in Magdeburg, weil hier nicht eine Staatsgewalt wie ein Rat oder ein Fürst die Auflösung verfügt hat, sondern die Brüder selbst ihren Konvent an die Stadt übergaben. Das Gründungsdatum unserer Stadtbibliothek knüpft an diese Schenkung an.

epd: Sie werden über „Wucht und Wirkung“ der früheren Reformation in Magdeburg sprechen. Wie groß war denn die Wucht, wie hat sich die Stadt verändert?

Volkmar: Es ist spannend zu schauen, wie sich die Reformation in der Stadt vollzogen hat. Wir haben hier wirklich eine Gemeindereformation erlebt, die sich aus der Mitte der Bürgerschaft entwickelt hat. Es ist nicht so, dass erst mit Luthers Auftritt in Magdeburg die Reformation begann. Er hat vielmehr begutachtet, was in den Monaten davor aus der Breite der Stadtgesellschaft heraus entstanden war. Wenn wir uns heute fragen, wie durch Partizipation die Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme aus den Diskursen innerhalb der Bürgerschaft erfolgen könnte, ist Magdeburg 1524 dafür eine Blaupause. Der Rat, der zuvor eine konservative Politik gegen die Neuerungen geführt hatte, wurde von den Bürgern gewissermaßen überstimmt. Die Straße siegte, und noch am selben Tag genehmigte der Rat, dass in allen großen Pfarrkirchen der Stadt Bürgerversammlungen stattfinden sollten. Neue Gemeindeausschüsse, wir würden heute sagen: Gemeindekirchenräte, werden gebildet. Die verabschiedeten ein Zehn-Punkte-Programm, die sogenannten „Artikel des Volkes“, die dann Luther vorgelegt wurden. Ich kenne keine frühe Reformation, die derart aus einer breiten gesellschaftlichen Mitte getragen war wie in Magdeburg.

epd: Wo standen zu diesem Zeitpunkt andere große Städte wie Nürnberg, Bremen oder Zürich?

Volkmar: Magdeburg hatte keine Alleinstellung in der frühen Reformation. Aber es gilt als die erste Großstadt, die unter direkter Beteiligung Luthers evangelisch wurde. Viel wichtiger ist allerdings zu sehen, wie eng die Eliten der Städte miteinander vernetzt waren. Magdeburg nimmt in den „Artikeln des Volkes“ etwa Bezug auf Nürnberg. Die großen Städte im Reich waren auch eigene Kommunikationszentren.

epd: War Magdeburg da weiter als andere Großstädte?

Volkmar: Magdeburg gehörte zu den Städten, die durch die sehr stringente Durchsetzung der Reformation im Sommer 1524 in eine reichsweite Führungsposition gerieten. 1526 war sie im sogenannten Torgauer Bund, einem Vorläufer des Schmalkaldischen Bundes, ein Verteidigungsbündnis protestantischer Landesherren und reichsfreier Städte, zunächst allein unter Fürsten die einzige Stadt, die versucht hat, der Reformation auch auf Reichsebene eine Zukunft zu geben.

epd: Hatte das eine Ausstrahlung auf andere Städte?

Volkmar: Das sehen wir, wenn wir eine Flugschrift des Mediziners und Reformators Wolff Cyclop (1476/77-1527) über die Bürgerversammlungen anschauen. Die wird etwa in Straßburg nachgedruckt, weil man das Geschehen in Magdeburg dort für wichtig hielt. Ein solcher Austausch ist nichts Neues, denn in Städten wie Magdeburg, Bremen oder Braunschweig profitierte die Reformation von den Strukturen, die durch die Hanse bereits aufgebaut waren. Da waren viele Städte aufs Engste miteinander vernetzt und galten als politische Alliierte.

epd: „Metropolen als Innovationsräume“ ist eine ihrer Thesen. Aber die Reformation ging von Wittenberg und Eisleben aus – sind die Großstädte da wirklich die Vorreiter gewesen?

Volkmar: Die Großstädte waren auf jeden Fall Kommunikationsräume, wo sich diese Botschaft nicht nur verbreiten, sondern auch überregional ausstrahlen konnte. Wir wissen alle, dass die Reformation vom Medium der Flugschriften stark profitiert hat. In Magdeburg kannten wir schon seit den frühen 1520er Jahre ein gutes Dutzend evangelischer Prediger, die auch in andere Städte zogen. Hier gab es einen „Stellenmarkt“ für Geistliche, der eine gewisse Größenordnung hatte. In Magdeburg waren beispielsweise alle vier Bettelorden mit einem Standort in der Stadt vertreten. Junge Leute, die Karriere machen wollten, fanden wir in den Großstädten viel geballter.

epd: Worum geht es in der Tagung – welche neuen Erkenntnisse soll es geben?

Volkmar: Wir wollen zum einen das alte Forschungsparadigma „Stadt und Reformation“ wieder in den Mittelpunkt aktueller Forschung rücken, und erproben mit dem Fokus auf die Großstädte der Zeit zugleich einen neuen Ansatz. Die Tagung ist so angelegt, dass wir an einem Tag andere für die Reformation wichtige Großstädte betrachten, um eine Vergleichsbasis für Magdeburg zu gewinnen. An einem anderen Tag schauen wir uns speziell den Take-off der Reformation 1524 in Magdeburg an. Da hoffen wir, dass uns neue Erkenntnisse erwarten.

epd: Heute sind die meisten Magdeburger konfessionslos. Hat dieser Abschnitt der Geschichte noch eine Bedeutung für die Stadt?

Volkmar: Das ist auf jeden Fall ein ganz wichtiger Anknüpfungspunkt für die Identität der Stadt. Da spielt auch die religiöse Zugehörigkeit keine große Rolle. Die Stadt hat in ihrer Geschichte viele Höhen und Tiefen erlebt, und die Reformationsepoche zählt zu den Glanzzeiten. Damals war Magdeburg eine der Metropolen Europas. Das ist den Magdeburgern durchaus bewusst, deswegen besteht auch nach wie vor ein großes Interesse daran. Das liegt wohl auch daran, dass sich im Stadtbild nicht so viele Zeugnisse erhalten haben. Viele Patrizierhäuser oder Kirchen der Reformation kann man heute nicht mehr erleben. Aber die Ahnung, dass da etwas gewesen sein muss und dass es wichtig ist, sich damit auseinanderzusetzen, ist doch bei vielen Magdeburgern vorhanden. Ich selbst bin angenehm berührt, wie intensiv dieses Jubiläum in der Stadtgesellschaft gespielt wird. Ich denke da an die vielfältigen musikalischen Angebote, aber auch an die Beteiligung von Stadtbibliothek und Kulturhistorischem Museum. Mir sagte kürzlich jemand, er kenne keine Stadt in Ostdeutschland, die sich so intensiv um ihre eigene Geschichte bemühe. Das liegt wohl auch daran, dass die Stimmung in der Stadt jetzt wieder zukunftsoptimistisch ist. Da passt das Reformationsthema hinein.