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Warum israelische Soldaten den Dienst verweigern

Die Armee hat in Israel nicht nur eine militärische, sondern auch eine wichtige soziale Funktion. Warum in der symbolträchtigen Institution der Unmut wächst und Verweigerung kein Tabu mehr ist, erzählen drei Reservisten.

Als am 7. Oktober 2023 die Hamas den Süden Israels überfiel und das Land den Kriegszustand erklärte, überstieg die Zahl der Meldungen von Reservisten zum Dienst in der Armee die Einberufungen bei weitem. Seither sind mehr als 400 Tage vergangen. Inzwischen ist die israelische Gesellschaft zusehends kriegsmüde; viele Reservisten stehen am Rand der Erschöpfung. Immer mehr haben Zweifel an Kriegszielen und -führung, was sich jüngst an einem offenen Brief von Soldaten und Reservisten zeigte, die mit Dienstverweigerung drohen.

In dem Protestschreiben aus der zweiten Oktoberwoche heißt es: “Hiermit geben wir bekannt, dass wir nicht mehr in der Lage sein werden, unseren Dienst fortzusetzen, wenn die Regierung nicht sofort ihren Kurs ändert und auf eine Einigung hinarbeitet, um die Geiseln nach Hause zu bringen.” Rund 130 aktive Soldaten und Reservisten unterstützten den Brief an Regierung und Verteidigungsestablishment, dreimal so viele wie bei einem ersten Brief im Frühjahr. Manche zeichneten nur mit ihren Initialen und ihrer Einheit, andere mit vollem Namen. So wie Max Kresch und Michael Ofer-Ziv.

“Diese Haltung macht sehr einsam”, sagt Kresch. Der 28-jährige Biologiestudent aus Jerusalem hat zunächst als Reservist in einer Kampfeinheit gedient, dann aber den zweiten Einberufungsbefehl bewusst nicht befolgt. Freunde, die seine linke politische Einstellung teilen, stellten seinen Dienst in Frage, Kameraden rieben sich hingegen an seiner Kritik an der Kriegsführung. Stimmen wie seine seien selten unter Kampfsoldaten, sagt er. “Man wird von beiden Seiten isoliert.”

Die Armee, im örtlichen Sprachgebrauch “IDF”, Israel Defense Forces, oder hebräisch “Zahal” genannt, ist eine heilige Kuh, weil sie die zersplitterte israelische Gesellschaft am ehesten vereint. Von eng definierten Ausnahmen abgesehen, durchläuft jeder jüdische Israeli, Männer wie Frauen, den obligatorischen Wehrdienst und die Reservepflicht.

Michael Ofer-Ziv war im Ausland, als Kämpfer der Hamas am 7. Oktober mehr als 800 Zivilisten und rund 370 Soldaten töteten und er seine Einberufung erhielt. “Mir war klar, dass es militärisches Handeln braucht, aber schon am 8. Oktober war mir bewusst, dass der Ruf nach Rache in den Diskurs eingedrungen ist”, benennt der 29-Jährige aus Tel Aviv sein Dilemma.

Ofer-Ziv beschreibt sich als “links geboren und erzogen”, ein Besatzungsgegner, für den es “keine militärische Lösung für ein politisches Problem” geben kann. Einziehen ließ er sich trotzdem, nicht nur, weil es das Gesetz verlangt, auch, weil er hoffte, “einen kleinen Unterschied” machen zu können durch seine Präsenz. Auch Kresch wollte mit seinem Dienst eine “Stimme der Vernunft” sein.

“Es braucht viel, um in den Krieg zu ziehen. Man muss dazu in der Lage sein, und man muss an die Gründe und Ziele für den Krieg glauben”, sagt Daniel, der seinen vollen Namen nicht nennen will. Eigentlich hätte der 26-jährige Jerusalemer Student und Mitunterzeichner längst seine zweite Runde Reservedienst antreten müssen. Wie Max und Michael sieht er darin schon länger keinen Sinn mehr.

Was letztlich den Ausschlag für die Dienstverweigerung gab, liegt bei jedem der drei etwas anders. Drei versehentlich von der Armee erschossene Hamas-Geiseln brachen für Michael dem Kamel das Rückgrat. Die Hinrichtung von sechs Geiseln durch die Hamas nach 330 Tagen Gefangenschaft und die Weigerung der israelischen Regierung, ein Geiselabkommen einzugehen, waren für Max das letzte Argument. Für Daniel wurde die israelische Invasion nach Rafah der Wendepunkt.

Vieles läuft nach Einschätzung der Verweigerer schief: Mangelnde Standards bei der Rechenschaftspflicht, fehlende Einsatzregeln und das Gefühl, dass der Krieg der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu als Deckmantel dient, um ihre extreme, ultranationalistische und spaltende Politik durchzusetzen.

Die israelische Besatzung, palästinensische Menschenrechte oder mögliches Fehlverhalten der Armee: Diese Themen fehlen in dem Brief der Verweigerer an die Staats- und Militärführung. Stattdessen lautet die Kritik: “Der Krieg in Gaza verurteilt unsere entführten Brüder und Schwestern zum Tode (…) Viele Geiseln wurden durch Bombenangriffe der israelischen Armee getötet, viel mehr, als bei Militäroperationen gerettet wurden.”

Mit dem Fokus auf die Geiseln könne man den israelischen Mainstream erreichen, glaubt Daniel. Unter dem Strich komme es darauf an, Menschen angesichts der Lage zu zivilem Ungehorsam und Wehrdienstverweigerung zu bewegen, aus welchen Gründen auch immer. Ansichten wie die der Unterzeichner des Briefs “werden populärer, aber wir haben noch viel Luft nach oben”, so Daniel. Vor allem, wenn die Armee militärische Erfolge erziele wie etwa die Tötung von Hisbollahführer Nasrallah, verlören die Argumente an Gewicht.

Eine Einberufung zu verweigern, ist illegal in Israel. Anders als in vielen westlichen Staaten gibt es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Theoretisch drohen Militärgericht und Gefängnis, aber auch gesellschaftlich könnte der Schritt der Unterzeichner Folgen haben in einem Land, in dem der Dienst an der Waffe zu sozialen DNA gehört. Klar hätten solche Handlungen Konsequenzen, sagt Max Kresch, “aber Unterlassungen auch”.

Angesichts der großen Unsicherheit sieht er seine Zukunft in Israel “alles andere als gewiss, wie wohl die Zukunft aller”, so der gebürtige US-Amerikaner. Der eigentliche Konflikt bestehe nicht zwischen Israel und Palästina, sondern zwischen Menschen, die Frieden wollen oder nicht wollen. “Wenn Du dich für eine Seite entscheiden musst, wähle den Frieden.”