Als Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) im Jahr 1867 beim Deutschen Juristentag in München ans Pult trat, ging ihm sein Ruf bereits voraus. „Schluss, Schluss!“ tönte es aus dem Publikum, bevor er seine Forderung vortragen konnte: die Abschaffung der Strafgesetze gegen homosexuelle Handlungen in deutschen Ländern. Der Tumult hinderte ihn, die Rede zu beenden. Die deutschen Zeitungen übergingen den Vorfall mit Stillschweigen.
Der gebürtige Ostfriese und stolze Hannoveraner, dessen Geburtstag sich am 28. August zum 200. Mal jährt, hielt bis zum Lebensende an seiner Mission fest. Was ihm die Kraft gebe, sei der Gedanke an die regelmäßig vorkommenden Suizide gleichgeschlechtlich liebender Männer, schrieb er in seinen Erinnerungen und hielt fest: „Wir wollen uns nicht mehr verfolgen lassen!“
Ulrichs, der selbst homosexuell empfand, war überzeugt, dass die homosexuelle Liebe angeboren und natürlich sei. Diese Sicht auf die von ihm so genannte „Urningsliebe“ oder den „Uranismus“ legte er in zahlreichen Schriften dar – und gab damit wichtige Anstöße für die Sexualwissenschaft. So ließ sich der Mediziner Magnus Hirschfeld von Ulrichs zu seiner Theorie von den sexuellen Zwischenstufen inspirieren. Auch prominente französische, englische, italienische und russische Mediziner bezogen sich auf Ulrichs’ Schriften.
Lange war sein Name nur wenigen ein Begriff, doch seit den frühen 1990ern wächst die Zahl derer, die ihn wiederentdecken und sich für ein öffentliches Andenken einsetzen. „Karl Heinrich Ulrichs war fraglos eine große Persönlichkeit“ und habe gegen die öffentliche Meinung eines ganzen Zeitalters an seiner Sache festgehalten, urteilt der Historiker Norman Domeier, der zu Homosexualität in der Moderne forscht. Auch als Vorkämpfer universeller Menschenrechte müsse Ulrichs gewürdigt werden. „Ihm ging es um Freiheitsrechte nicht nur für sich und Gleichgesinnte, sondern für alle Menschen“, sagte Domeier dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Ulrichs wurde 1825 in Westerfeld bei Aurich geboren. Sein Vater war Landbaumeister in hannoversch-königlichen Diensten, die Mutter entstammte einer pietistischen Pastorenfamilie. Nach dem frühen Tod des Vaters 1835 zog die Familie nach Burgdorf bei Hannover. Dort lebte sie beim Großvater mütterlicherseits, dem damaligen Burgdorfer Superintendenten. Von 1844 bis 1846 studierte Ulrichs in Göttingen Rechtswissenschaft, danach in Berlin.
Seine Karriere im hannoverschen Justizdienst endete 1854 abrupt, als ihm „widernatürliche Wollust“ vorgeworfen wurde. Ulrichs sah sich genötigt, sein Amt als Hilfsrichter in Hildesheim niederzulegen. Danach hielt er sich als Hauslehrer, Journalist, Privatsekretär und Privatgelehrter an wechselnden Orten über Wasser.
In den 1860ern suchte Ulrichs immer mehr die Öffentlichkeit. Er verfasste Eingaben an die Gesetzgeber, nahm Gleichgesinnte öffentlich in Schutz, konzipierte einen „Urningsbund“, gründete eine erste schwule Zeitschrift und vernetzte sich mit Mitstreitern. „Merkwürdig, dass dieser Enorme nicht allgemein als der ‘Vater’ der Homosexuellenbewegung angesehen wird“, bemerkte der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch (1940-2023) zu Ulrichs’ 175. Geburtstag.
Als Lutheraner, dem der christliche Glaube viel bedeutete, suchte Ulrichs auch den Streit mit der Kirche. Die Liebe zu Männern habe Gott ihm gegeben, schreibt er seiner Schwester in einem Brief. „Wer darf Gott bitten, sein eigenes Werk, das er zu unerforschlichen Zwecken gemacht hat, wieder zu zerstören?“
In einer 1870 erschienenen Schrift fordert Ulrichs von der katholischen und der evangelischen Kirche, es gleichgeschlechtlichen Paaren zu gestatten, „vor den Altar hinzutreten und vor dem Pfarrer die Erklärung abzugeben, dass sie hierdurch miteinander ein Liebesbündnis eingehen, unter dem Gelöbnis ehelicher Treue“.
Den treuen Anhänger des welfischen Königshauses empörte die preußische Annexion des Königreichs Hannover 1866 zutiefst. Zweimal wurde er wegen seiner antipreußischen Haltung verhaftet. Seine Hoffnungen auf eine Entkriminalisierung der „Urningsliebe“ zerschlugen sich vollends, als nach der Reichsgründung 1871 das strenge preußische Gesetz gegen homosexuelle Handlungen als Paragraf 175 deutschlandweit bindend wurde. Erst 1994 wurde der Paragraf 175 endgültig abgeschafft. 1880 ging Ulrichs nach Italien und verbrachte dort die letzten 15 Jahre seines Lebens.
Heute sind Straßen und Plätze nach ihm benannt, etwa in Aurich, Berlin, München und Frankfurt am Main. In Berlin, Stuttgart und Göttingen erinnern Gedenktafeln an ihn. Auch in Burgdorf wurde 2016 eine Bronzetafel enthüllt – am Haus der Superintendentur, wo Ulrichs als junger Mann wohnte. Dort lädt eine queer-feministische Initiative an seinem 200. Geburtstag zu einer Gedenkversammlung ein.
Eine Genugtuung war es Ulrichs, als ihm in seinem letzten Lebensjahr der Psychiater Richard von Krafft-Ebing (1840-1902) eine Broschüre zusandte, in der dieser für die Straffreiheit der Homosexualität eintrat. Bereits zuvor hatte der renommierte Mediziner bekannt, dass erst Ulrichs’ Schriften ihn auf das Thema gebracht hatten. Ulrichs schöpfte neue Hoffnung, dass andere seinen Kampf fortführen würden, und jubelte: „Das Eis ist gebrochen.“