“Es gab viele Russland-Versteher, aber zu wenige, die etwas von Russland verstanden.” Der neue Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels – Historiker Karl Schlögel – geht nicht nur mit Putin hart ins Gericht.
“Die Besetzung der Krim 2014 durch Russland war ein ungeheurer Schock. Aber man lernte dadurch, dass man noch einmal auf die Schulbank zurück muss.” Die eigenen Gewissheiten zu hinterfragen, vermeintlich Feststehendes neu und anders zu durchdenken: Das ist eine der Stärken des Historikers Karl Schlögel, der am Sonntag den mit 25.000 Euro dotierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt.
“Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Russland noch einmal zurückfallen würde in Zeiten, die in vielem den Praktiken des Stalinismus gleichen”, betonte er in der Frankfurter Paulskirche. Genauso wenig habe er sich ein Amerika vorstellen können, “in dem sich einmal Angst vor einem autoritären Regime würde ausbreiten können”. Und ganz fremd sei ihm auch der Gedanke gewesen, “dass auch einmal in der Bundesrepublik etwas ins Rutschen geraten könnte”.
Besonders hart ging der 77-Jährige in seiner aufrüttelnden Dankesrede mit Russlands Präsident Wladimir Putin ins Gericht, dessen wichtigste Waffe die Angst sei: “Das Unheil, das Putins Russland über die Ukraine gebracht hat, hat viele Namen: Imperialismus, Revisionismus, Mafia-Staat, Faschismus, Rassismus.”
Schlögel kritisierte darüber hinaus, dass es in Deutschland viel zu lange gedauert habe – und bei manchen immer noch dauere, Putin und seine wahren Absichten zu durchschauen: “Es gab viele Russland-Versteher, aber zu wenige, die etwas von Russland verstanden.”
Der Friedenspreis ist nicht die erste Auszeichnung für Schlögel. Im vergangenen Jahr etwa bekam er den mit 100.000 Euro dotierten Gerda-Henkel-Preis. Und für sein Buch “Terror und Traum. Moskau 1937”, in dem er die Gleichzeitigkeit von Utopie und Gewalt in der Stalinzeit thematisiert, wurde der Historiker 2009 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.
Für sein 2017 zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution erschienenes monumentales Werk “Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt” erhielt er 2018 den Preis der Leipziger Buchmesse.
Der Historiker ist klar in der Sache, aber nimmt die Dinge nicht auf die leichte Schulter. Es widerstrebt ihm erkennbar, in den Medien als Experte zu allem und nichts mit einer schnellen Meinung zu punkten. Stattdessen hält er sich mit öffentlichen Statements zurück, wenn er sich in einem Thema nicht zuhause fühlt.
Umso mehr mischt er sich in öffentliche Debatten ein, wenn er wirklich etwas zu sagen hat, wie auch aus der Begründung zur Buchpreis-Verleihung hervorgeht: “Als einer der ersten hat er vor der aggressiven Expansionspolitik Wladimir Putins und seinem autoritär-nationalistischen Machtanspruch gewarnt.” In seinem Werk verbinde Schlögel “empirische Geschichtsschreibung mit persönlichen Erfahrungen. Als Wissenschaftler und Flaneur, als Archäologe der Moderne, als Seismograph gesellschaftlicher Veränderungen hat er schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs Städte und Landschaften Mittel- und Osteuropas erkundet.”
Neugier auf die Welt zeichnet Schlögel aus, der 1948 als zweites von sechs Kindern eines Landwirtsehepaars in Hawangen im Allgäu zur Welt kam. Er besuchte die Benediktinergymnasien im Kloster Ottobeuren und im Kloster Scheyern und studierte an der Freien Universität Berlin Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik. Nach seiner Dissertation ging er 1982 als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an die Lomonossow-Universität Moskau.
Nach seiner Rückkehr arbeitete Schlögel als Privatgelehrter, Übersetzer und freier Autor für den Rundfunk. Er schrieb auch für Zeitungen, darunter den “Rheinischen Merkur”, die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” und “Die Zeit”. 1990 wurde er auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz berufen. 1995 wechselte er an die Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, wo er bis 2013 lehrte.
Zuletzt wandte er sich 2023 mit “American Matrix. Besichtigung einer Epoche” dem Verhältnis zwischen der Sowjetunion und den USA zu. Schlögel-Einsteigern sei sein charmanter Essay “Der Duft der Imperien” von 2020 empfohlen. Ausgehend von einem Parfüm, das im Osten als “Rotes Moskau” und im Westen als “Chanel No 5” berühmt wurde, erzählt er darin eine Art Geruchsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ans Aufhören denkt der Autor noch lange nicht, wie er kürzlich in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) verriet. Sein nächstes Großprojekt? “Eine Geschichte Russlands, erzählt entlang der Wolga.”