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Verschollenes Tagebuch von 1945 zurück in Vorpommern

Lange war es verschwunden, jetzt ist es zurück im Pfarrarchiv Katzow: ein Tagebuch, das die promovierte Pfarrfrau und Krankenschwester Hilde Völger 1945 führte. Darin kreist sie um die Dorfbewohner.

Das Tagebuch von Hilde Völger
Das Tagebuch von Hilde VölgerNorbert Rauer

Es ist der 28. April 1945, als die Pfarrfrau Hilde Völger in ihr Tagebuch schreibt, es gebe Gerüchte über eine Kapitulation Deutschlands – was eine „leise Hoffnung auf friedlichen Ausgang für unser Dorf aufflackern“ lasse: das Dorf Katzow zwischen Greifswald und Wolgast, im damaligen Pommern, heutigen Vorpommern gelegen. Am Morgen hätten sie im Pfarrhaus noch einen Geburtstag „in Fülle von Liebe einer Gemeinschaft“ gefeiert, dann die bange Frage diskutiert: „Trecken oder bleiben“? Die Heimat verlassen, um vor den sowjetischen Soldaten zu fliehen, oder bleiben in der Hoffnung auf einen guten Ausgang …?

Tagebuch wurde 1985 auf Dachbalken entdeckt

Es sind erschütternde Zeilen, die Hilde Völger hinterlassen hat. 46 handgeschriebene Seiten aus der Zeit zwischen dem 28. April und dem 9. August 1945, als der Zweite Weltkrieg endete, nahe der Front im Nordosten Deutschlands die Angst vor der möglichen Rache russischer Soldaten umging und die Zeit der sowjetischen Besatzung begann.

Am 8. Mai diesen Jahres sind Hilde Völgers Aufschriebe in Katzow vorgelesen worden, vor fast 100 Zuhörenden, darunter auch Nachkommen der im Heft Erwähnten. Norbert Rauer, ein Pastor im Ruhestand, der von 1976 bis 1991 in Katzow tätig war, hat das initiiert. Sein Sohn hatte 1985 als Neunjähriger das Tagebuch beim Spielen im Pfarrhaus entdeckt, versteckt auf einem Dachbalken. „Mir war sofort klar, dass das ein wichtiges Dokument ist“, sagt Rauer. Doch ein Jahr später habe eine ehemalige Gemeindeschwester es mit nach Westdeutschland genommen. Erst jetzt, 80 Jahre nach Kriegsende, gelangte es über Umwege wieder in Rauers Hände. Und zurück ins Pfarrarchiv von Katzow.

Hilde Völger gehörte zu Frauen in Deutschland, die studierten

„Hilde Völger war eine besondere Frau“, findet Norbert Rauer. Geboren 1894 in Blumberg im Kreis Randow, aus einer Pfarrdynastie stammend, hochgebildet. In Stettin ging sie zur Schule, in München und Marburg studierte sie an den philosophischen Fakultäten der Unis. Damit gehörte sie zur ersten Generation studierender Frauen in Deutschland. 1920 promovierte sie über die „Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Landarbeiterinnen in Pommern.“

 

Die Kirche von Katzow
Die Kirche von KatzowRainer Neumann

An der Uni Marburg lernte Hilde Hoppe, wie sie damals noch hieß, auch ihren Mann Willi Völger kennen, folgte ihm nach der Heirat ins hessische Schlüchtern und später ins pommersche Katzow, wo er von 1932 bis 1964 Pastor war. Bis 1945 arbeitete sie dort als sogenannte „NSV-Schwester“, Krankenschwester in einer nationalsozialistischen Organisation – und wurde Pfarrfrau alten Stils, wie Rauer sagt. „Durch sie war das Pfarrhaus ein Ort der Hilfe für Körper und Seele.“

Bis zu 60 Menschen versteckten sich im Pfarrhaus vor den russischen Soldaten

In ihren Tagebuchzeilen kreist Hilde Völger um die Menschen im Dorf, ihre Ängste, ihre Nöte, ihre Entscheidungen, ihr Schicksal. Da sind etwa die Krügers, geflüchtete Gutsbesitzer aus Hinterpommern, die Ende April „nach bitterschwerem Abschied“ vom Hof rollen – aber am selben Abend schon wieder zurück sind, „wegen deutlicher Zeichen von russischer Annäherung“. Da sind die vielen jungen Frauen und Flüchtlinge, die zitternd im Pfarrhaus Unterschlupf suchen – in einer Nacht fast 60! – , weil die ersten Russen am 30. April das Dorf erreicht haben, Vergewaltigungen und andere Misshandlungen zu befürchten sind.

Da sind einzelne Frauen, die sich in „ihrer ausweglosen Angst“ das Leben nehmen – wie Marie Neumann etwa, die sich am Ofen erhängt, nachdem ihr Mann in Panik vor den Russen geflohen ist, weil sie seine versteckten Waffen entdeckt haben. Einzelne andere Männer, so beschreibt die Pfarrfrau, werden verhaftet und verhört, zum Teil auch nach Denunziationen. Und dann sind da noch diese Kinder, die sich Anfang Mai fast zwei Wochen lang im Wald verstecken – und nach Kriegsende heil zurückkehren mit dem Gefühl, einen Schutzengel gehabt zu haben. „Es ist eine wunderbare, unvergessliche Zeit für die fünf Kinder gewesen voll Tiefe und Gemeinschaft“, heißt es im Tagebuch.

Aufschriebe durchkreuzen Schwarz-Weiß-Bilder

Hilde Völgers Zeilen durchkreuzen Schwarzweißbilder, zeigen, dass es sowjetische Soldaten gab, die plünderten und vergewaltigen, aber auch solche, die in jedem einen Menschen sahen und viele Dorfbewohner vor der Willkür anderer Landsleute schützten. Einige auch hoch gebildet, wie jener russische Hauptmann, mit dem die Völgers stundenlang über deutsche Literatur und Philosophie von Platon bis Kant sprachen. „Es war ein echtes und lebendiges Gespräch wie in alten Marburger Tagen“, notiert Hilde Völger am 12. Mai beglückt. Ihr Mann habe verjüngt gewirkt.
Was in allem beeindruckt: die innere Stärke, aus der heraus diese Frau schreibt. Kein Jammern, kein Hadern, keine Panik, kein Selbstmitleid findet sich in ihren Zeilen, stattdessen jede Menge Empathie für alle, die Schlimmes erleiden.

1967 reisen Hilde Völger und ihr Mann aus DDR aus

Ihre Aufschriebe enden am 9. August mit der Schilderung, wie der Ackerbau unter sowjetischer Besatzung weitergeht, wie im Dorf die Sorge vor Hunger aufkeimt – weil unklar ist, wie die Ernte verteilt werden wird – und Empörung kursiert über zwei Brüder, die andere denunziert hätten.
Hilde Völger und ihr Mann, so beschreibt es Norbert Rauer, bleiben noch bis 1967 in Katzow. Dann reisen sie nach Westdeutschland aus, zurück nach Schlüchtern, wo sie früher bereits lebten – aber halten weiter Kontakt nach Katzow und ins Nachbardorf Neu Boltenhagen.

 

Alle zwei Jahre wird in Katzow noch heute das Krippenspiel aufgeführt, das Hilde Völger 1938 eingeführt hatte.
Alle zwei Jahre wird in Katzow noch heute das Krippenspiel aufgeführt, das Hilde Völger 1938 eingeführt hatte.Sybille Marx

„Frau Völger schickte Medikamente, die es in der DDR nicht gab“, erzählt Rauer. Eine Läutemaschine für die Katzower Kirche besorgte sie auch. 1984 ist sie gestorben. Bis heute wird in Katzow jedes zweite Jahr ein Krippenspiel auf Plattdeutsch aufgeführt, das sie begründet hat.