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Über Generationen hinweg angefeindet

Besuch bei der Einstiegsklasse am Abendgymnasium in Karlsruhe: Die jungen Erwachsenen drücken nach ihrer Arbeit die Schulbank und bereiten sich auf dem zweiten Bildungsweg aufs Abitur vor. „Gläubig ist nur einer der zehn Schülerinnen und Schüler“, sagt Deutschlehrerin Simone Schönung.

Was die Pädagogin und Christin überrascht, fügt sich in die jüngste Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ein. Aus der am vergangenen Dienstag veröffentlichen sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung geht hervor, dass Religiosität und Kirchenbindung in Deutschland zunehmend schwinden. „Glaube steht jedem frei. Religion führt zu Krieg, schon deshalb halte ich nichts davon“, meint Marcel, einer der Schüler.

Er lese hin und wieder in der Bibel oder auch im Koran, weil er gläubige Freunde habe, sagt er. „Da heißt es aber auch, dass man anderen die eigene Religion nicht überstülpen soll“, betont Marcel. Umso schlimmer sei es, „dass jetzt wieder jüdische Häuser markiert werden“, zeigt sich der junge Mann entsetzt.

Die Lehrerin, Simone Schönung hatte im Rahmen der Besprechung der Ringparabel in Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781) „Nathan der Weise“ für die Schülerinnen und Schüler einen Online-Austausch mit einer in den USA lebenden Jüdin arrangiert. Irene Münster ist die Tochter einer im April 1940 emigrierten jüdischen Familie aus Graben-Neudorf (Kreis Karlsruhe). Sie berichtet den Schülern, wie ihre Familie bei deutschen Nachbarn Unterschlupf vor der Verfolgung durch die Nazis fand.

Die 67-Jährige schildert, wie die Eltern und Großeltern dank der Hilfe des damaligen Bürgermeisters und des Pfarrers nach Argentinien ausreisen konnten und so der sicheren Deportation nach Gurs am 22. Oktober 1940 entkamen. Als Kind habe sie erlebt, wie die Familie unter der Militärdiktatur in Argentinien – wiederum wegen ihres jüdischen Glaubens – verfolgt wurde. Münsters Bruder lebe in Israel, wo ihn der aktuelle Nah-Ost-Konflikt zwinge, in Bunkern Schutz zu suchen, erfahren die Schüler weiter.

„Für mich war das ganz traurig zu hören, wie eine Familie über Generationen hinweg angefeindet wird“, sagt Ina, eine Schülerin. Sie arbeitet tagsüber in einer Kita, in die auch einige Kinder jüdischer Abstammung gehen. Ihr sei durch den Bericht Münsters ihre eigene Verantwortung bewusst geworden, so die Erzieherin. „Ich möchte nicht, dass die Kinder Anfeindungen erleben müssen“, sagt sie.

Ihre Mitschülerin Sandra kommt durch die Ausführungen Münsters in Kontakt mit der eigenen Geschichte. Sie stammt aus Indonesien, hat chinesische Wurzeln. Aus Erzählungen ihrer Mutter wisse sie, welchen Ängsten ihre Familie in den 1960er Jahren ausgesetzt waren, berichtet die Buddhistin. Rund drei Millionen Menschen, darunter chinesisch-stämmige Bürger, kamen bei dem Massaker 1965/1966 unter dem Militärdiktator Suharto zu Tode.

„Friedensarbeit“ nennt Schönung den Austausch mit Münster. Die Reaktion der Schüler gibt ihr Recht. Patrik sagt, ihn habe beeindruckt, wie Münster im Zusammenhang mit dem Nah-Ost-Konflikt weniger über Religion als vielmehr über „Ignoranz“ gesprochen habe. Ina und Michael fällt auf, dass Münster keinerlei Hass ausstrahlte.

Toleranz üben, sich gegenseitig respektieren, die individuelle Verantwortung anerkennen, so lauten die Botschaften, die Patrik, Marcel, Ina, Sandra, Michael und die anderen Schüler von der außergewöhnlichen Unterrichtsstunde mitnehmen. „Man spürte, dass die Juden damals Menschen mit Wünschen, Gefühlen und Hoffnungen waren, nicht nur ausgezehrte Häftlinge wie auf Bildern oft dargestellt“, fasst der einzige bekennende christliche Schüler in der Klasse, Michael, seinen Eindruck zusammen. (2770/19.11.2023)