Die Europaabgeordnete Hannah Neumann (Grüne) warnt davor, dass die europäische Migrationsdebatte den Wiederaufbau Syriens blockieren könnte. Viele Syrer befürchteten, dass Europa im Streben nach schneller Stabilität grundlegende Prinzipien opfern könnte, sagte Neumann nach einer Reise in das vom Krieg zerrüttete Land dem Evangelischen Pressedienst (epd). Statt sich auf Abschiebungen zu konzentrieren, plädiert die Politikerin für eine stärkere Unterstützung der syrischen Diaspora in ihrem Wunsch, den Wiederaufbau des Landes langfristig zu sichern.
epd: Frau Neumann, Sie sind gerade aus Syrien zurückgekehrt. Deutschland und die EU blicken vor allem mit einer Frage dorthin: Kann Syrien bald als sicheres Land gelten, in das Migrantinnen und Migranten zurückkehren können?
Hannah Neumann: Nein, definitiv nicht. Die derzeit regierende HTS-Miliz steht auf der Terrorliste der EU. Ein Land kann nicht als sicher gelten, wenn es von einer Gruppierung geführt wird, die als Terrororganisation eingestuft ist. Es gibt immer wieder Kampfhandlungen. Zwar senden die neuen Machthaber hoffnungsvolle Signale, doch für den Status eines „sicheren Drittstaates“, in den Abschiebungen möglich wären, muss ein Land „nachhaltig sicher“ sein, wie Experten es nennen. Das wird in den nächsten ein bis zwei Jahren nicht gegeben sein. Rechtssichere Abschiebungen nach Syrien sind daher zurzeit nicht möglich.
epd: Ist die deutsche Außenpolitik zu stark von der Migrationsdebatte und dem Wahlkampf getrieben?
Neumann: Ich habe mich für die Reaktion einiger geschämt. Diktator Assad stürzt und die erste Frage lautet: Können wir jetzt Syrer zurückschicken? Bemerkenswert fand ich, dass mir die deutsche Migrationsdebatte in Syrien überall begegnet ist. Viele Menschen dort befürchten, dass Europa für schnelle Stabilität andere Prinzipien opfern könnte. Zudem haben viele Syrer in Deutschland Angehörige, die sich noch im Asylverfahren befinden. Ihre Sorge ist groß: Droht ihnen jetzt die sofortige Abschiebung? Wird der Familiennachzug gestoppt?
Ich wurde höflich gefragt, ob es wirklich stimme, dass Deutschland Ärzte behalten will – die in Syrien dringend gebraucht werden – während das Land gleichzeitig Kriminelle zurücknehmen soll. Diese Fragen haben mir die toxische Debatte in Deutschland noch einmal deutlich vor Augen geführt und dass diese Syriens Zukunft gefährdet.
epd: Welche Folgen hat diese „toxische Debatte“, wie Sie sie nennen?
Neumann: Wir verspielen eine riesige Chance für den Wiederaufbau. Wenn Syrien eine Demokratie werden soll, braucht es Demokraten vor Ort und Geschäftsleute. Viele von ihnen sind aber nach Deutschland oder in andere EU-Länder geflohen. Wenn wir ihnen jetzt signalisieren: „Sobald ihr zurückgeht, verliert ihr euren Asylstatus“, dann werden sie nicht gehen.
epd: Welche Debatte sollten wir Ihrer Meinung nach stattdessen führen?
Neumann: Als die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas bei uns im Parlament war, habe ich gesagt: Die einzige Migrationsdebatte, die wir jetzt führen sollten, ist die über die Möglichkeit für Syrer, ihre Heimat zu besuchen. Sie müssen sehen können, ob ihre Angehörigen noch leben, sich ein Bild der Lage machen. Erst dann können sie entscheiden, ob und wie sie zum Wiederaufbau beitragen können und ob sie jetzt zurückkehren wollen. Das ist gesunder Menschenverstand.
epd: Welche Rolle könnten die in Deutschland lebenden Syrer beim Wiederaufbau spielen?
Neumann: Sie sind eine enorme Ressource. Oft hört man, es brauche „Capacity Building“, also den Aufbau von Fähigkeiten. Aber das ist hier gar nicht nötig. Viele Syrer in Deutschland sind hochqualifiziert und könnten einen wichtigen Beitrag zum Wiederaufbau leisten. Das bedeutet nicht, dass sie sofort zurückkehren wollen. Doch um überhaupt eine Entscheidung treffen zu können, müssen sie wissen: Steht mein Haus noch? Leben meine Angehörigen? Gibt es Schulen für meine Kinder? Welche Perspektiven haben Frauen und Mädchen?
epd: Was sollten Deutschland und Europa tun?
Neumann: Die Lösung ist simpel: Syrern in Europa erlauben, nach Syrien zu reisen und zurückzukehren – ohne ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren. Die Bundesregierung hat angekündigt, dass eine einmalige, angemeldete 14-tägige Reise nach Syrien möglich sein soll. Wir warten noch auf die Umsetzung. Das wäre ein erster Schritt.
epd: Sie waren in Damaskus. Wie ist die Lage dort?
Neumann: Verglichen mit anderen Städten ist die Lage in Damaskus relativ stabil. Die Zerstörung ist nicht so massiv, die Armut weniger ausgeprägt, die Sicherheitslage verhältnismäßig gut. Ich kann dort über den Markt gehen, abends in einem Restaurant sitzen, Shisha rauchen und ein Glas Weißwein trinken. Aber das gilt nicht für alle Regionen und es nicht garantiert, dass es so bleibt. Über der Stadt liegt das Gefühl: „Genießen wir es, solange es so ist.“
epd: Wie schätzen Sie die neue Übergangsregierung unter Ahmed al-Sharaa ein?
Neumann: Bin ich ein Fan von Ahmed al-Sharaa? Nein. Kann ich mir aussuchen, wer Syrien regiert? Nein. Aber er ist jetzt an der Macht. Rhetorisch sendet er positive Signale. Die Frage ist, ob er die Dinge auch umsetzen kann. Wir stehen vor einem offenen Fenster der Möglichkeiten. Es kann in die richtige Richtung gehen – oder in die falsche. Falls Letzteres passiert, müssen wir bereit sein, uns zurückzuziehen.
epd: Wie kann die Gesellschaft nach dem brutalen Assad-Regime heilen?
Neumann: Das war neben der Migrationsdebatte die zweite große Frage, die mir in Syrien immer wieder gestellt wurde: „Wie habt Ihr das in Deutschland gemacht?“ Auch Deutschland hat zwei Diktaturen verarbeitet – nach dem Nationalsozialismus und dem Fall der DDR. Auch bei uns lautete eine Frage zum Beispiel: Bis zu welcher Ebene verfolgt man Täter?
epd: Könnte Deutschland Syrien in diesem Prozess helfen?
Neumann: Ja. Viele Syrer sagen zum Beispiel, sie wollen aus dem Foltergefängnis Sednaya ein Museum machen. Wir haben etwas Ähnliches im ehemaligen Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Ich will, dass Syrer sich solche Orte in Deutschland ansehen können. Das geht aber nur, wenn sie Visa bekommen. So können konkrete Ideen für den Weg nach vorne entstehen.