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Termin nach Vereinbarung?

Die EKD empfiehlt, über den Fortbestand des Sonntagsgottesdienstes nachzudenken. Kritiker meinen, ein Abschied davon wäre die Preisgabe der eigenen Sichtbarkeit

BONN/MÜNSTER – Vielen fallen die Schilder kurz hinter dem Ortseingang nicht mehr auf, aber noch stehen sie da: Sie zeigen eine lilafarbene oder gelbe stilisierte Kirche – und die sonntägliche Gottesdienstzeit. Meistens steht dort 10 Uhr. Doch mit der stählernen Selbstverständlichkeit eines Verkehrsschildes könnte es in Zukunft vorbei sein. Vielleicht ist in Zukunft keine Uhrzeit mehr, sondern nur noch „Gottesdienst nach Vereinbarung“ dort zu lesen.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat ihren Gemeinden jüngst in einer Studie empfohlen, über den Fortbestand des Sonntagsgottesdienstes offen zu diskutieren. Für viele sei der traditionelle Sonntagsgottesdienst – so das Ergebnis der Studie – nicht (mehr) attraktiv. „Angesichts schwindender personeller und finanzieller Ressourcen, vor allem aber mit Blick auf die geringe Reichweite sollte vielerorts engagierter und ergebnisoffener über seinen Fortbestand diskutiert werden“, heißt es in der Untersuchung „Faktoren des Kirchgangs“ der Liturgischen Konferenz der EKD.
Auch der Cheftheologe im EKD-Kirchenamt, Thies Gundlach, findet es in Ordnung, den Sonntagsgottesdienst hier und dort infrage zu stellen. „Die Rede vom Verlust des Sonntagsgottesdienstes funktioniert immer auch ein wenig nach dem Motto 'Wann wird es wieder so, wie es noch nie war'. Denn der Sonntagmorgengottesdienst hat seit Jahren schon nicht mehr seine klassische Funktion als 'Mitte der Gemeinde'“, sagt Gundlach.

Etwa 734 000 Menschen besuchen nach Angaben der EKD im Schnitt in Deutschland jeden Sonntag einen evangelischen Gottesdienst. Das entspricht etwa drei Prozent der Evangelischen. Diese Quote hält sich seit Jahrzehnten auf diesem Niveau. Der Sonntagsgottesdienst war also schon immer nur für eine Minderheit der evangelischen Christen interessant. Dennoch ist er für das negative Image des Gottesdienstes ausschlaggebend.

Die Studienautoren um die Göttinger Theologin Julia Koll haben herausgefunden, dass der Sonntagsgottesdienst vor allem ein Zielgruppengottesdienst für ehrenamtliche Mitarbeiter und hochverbundene Kirchenmitglieder ist. EKD-Cheftheologe Gundlach nennt ihn „eine intensive Identitätsvergewisserung“.
Daher sei es aber auch keine Selbstaufgabe, wenn diese Vergewisserung des Glaubens nicht an jedem Sonntag an jedem Ort stattfindet, sagt Gundlach. Jede Gemeinde könne und müsse daher „in theologisch begründeter Freiheit“ selbst entscheiden, wie viel Kapazität sie für einen regelmäßigen Sonntagsgottesdienst aufwendet und wie viel für andere Gottesdienste. Natürlich geht es nicht darum, den Gottesdienst aufzugeben. Stattdessen wächst die Bedeutung anlassbezogener und zielgruppenspezifischer Gottesdienste, um mehr Menschen zu erreichen.

Für den Bonner Theologen Michael Meyer-Blanck, der zwar als Vorsitzender der Liturgischen Konferenz an der Entstehung der Studie beteiligt war, sie aber nicht mitverfasst hat, wäre es fatal, beim Sonntagsgottesdienst ein Rückzugsgefecht anzutreten. Er sei so etwas wie der performative Kirchturm, die „Repräsentanz des Evangeliums in der Gesellschaft“, sagt er.

„Sonntags um zehn müssen die Glocken läuten, auch wenn ich gerade gemütlich beim Frühstück mein Ei aufschlage und nicht zum Gottesdienst gehe“, betont er. Außerdem müsse es den agendarischen Gottesdienst für die in der Kirche engagierten Leute weiterhin geben. Sie seien nach wie vor eine Kernzielgruppe. „Wir müssen den Sonntagsgottesdienst so stark wie möglich machen und auch die Hochverbundenen in der Kirche stärken. Sie wirken als Multiplikatoren“, sagt Meyer-Blanck.

Auch der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack hält ein Abrücken von der unverwechselbaren Gottesdienstzeit am Sonntagmorgen für gefährlich. Schließlich sei der Sonntag der heilige Tag. Aus der Religionsgeschichte wisse man zudem um die Bedeutung von religiösen Routinen und Gewohnheiten. Wer einen Gottesdienst besuchen will, müsse sich auf Ort und Zeit verlassen können. Pollack regt an, die Gottesdienste attraktiver zu machen.

Regelmäßig geben Kirchenmitglieder in Umfragen an, in den Gottesdienst zu gehen, obwohl sie dort nicht auftauchen. Das weist nach Pollacks Auffassung auf ein Mobilisierungspotenzial hin. „Wir müssen es den Menschen leichter machen, in einen Gottesdienst zu gehen“, sagt Pollack. Etwa indem man die Gottesdienste kürzer mache.

Wichtig sei auch, die Gottesdienste so professionell wie möglich zu gestalten, was Predigt und Musik angeht. „Gottesdienste sind eine sehr komplexe Angelegenheit.“

Ergebnisoffen diskutieren: Aus dem Fazit der Studie „Faktoren des Kirchgangs“

„Das gottesdienstliche Leben als Ganzes in den Blick zu nehmen, hat sich als ausgesprochen ertragreich und  sinnvoll erwiesen. Wenn Menschen heute über  ihren  Kirchgang berichten, dann kommen dabei sehr unterschiedliche Formate und Einschätzungen zur Sprache. Der Ausdifferenzierung des Angebots entspricht eine wachsende Ausdifferenzierung auch im Teilnahmeverhalten.

Für die kirchliche Praxis stellt dies eine große Herausforderung dar. Dabei unterstreichen die Ergebnisse einerseits die große Bedeutung der biographiebezogenen  Gottesdienste, und  zwar sowohl in Gestalt der klassischen  Amtshandlungen wie Taufe und  Beerdigung als auch in neuen  Formen (zum Beispiel Einschulung). Mit Abstrichen  lässt sich Ähnliches nach wie vor auch für die großen kirchlichen Feste im Jahreskreis festhalten, insbesondere für Weihnachten und Ostern.

Der normale Sonntagsgottesdienst, der das öffentliche Bild des Gottesdienstes nach wie vor stark prägt, ist dagegen nur für eine überschaubare Zielgruppe attraktiv. Seinem Anspruch eines für alle gültigen Hauptgottesdienstes wird er meist nicht gerecht. Angesichts schwindender personeller und finanzieller Ressourcen, vor allem aber mit  Blick auf diese geringe Reichweite sollte vielerorts engagierter und ergebnisoffener über seinen Fortbestand diskutiert werden.“