Was hilft Menschen, Lebenskrisen unbeschadet zu überstehen? Diese Frage erforscht die Diplom-Psychologin Donya Gilan am Deutschen Resilienz Zentrum (DRZ) in Mainz. Mit Susanne Schröder sprach sie über Glückstagebücher, Rituale und Eigenlob.
Frau Gilan, was versteht man unter Resilienz?
Der Begriff kommt aus der Materialkunde und beschreibt das Phänomen, dass Stoffe nach einer Verformung wieder in ihre Ausgangslage zurückkehren können. In der Psychologie und Medizin versteht man unter Resilienz die „seelische Widerstandskraft“. Der Begriff bezeichnet die Fähigkeit, dass Menschen ihre psychische Gesundheit trotz widriger Lebensumstände aufrechterhalten oder sie nach einer Krise zurückgewinnen.
Ist seelische Widerstandskraft angeboren, oder kann der Einzelne Resilienz auch erlernen?
Die Kunst der Krisenbewältigung ist eine sehr individuelle Angelegenheit. Sie hängt von vielen Faktoren ab: Familiäre Erfahrungen gehören dazu, Freunde, Gene, Werte, Glaubensvorstellungen und die konkrete Lebenssituation. Ein Patentrezept für Resilienz gibt es nicht. Die gute Nachricht ist aber: Resilienz ist erlernbar. Sie entsteht durch Interaktion mit der Umwelt im wirklichen Leben. Wie reagiere ich bei Stress und in Krisen? Wie kann ich trotz großer Belastung meine Emotionen steuern? Wie bewerte ich Stresssituationen, Misserfolge, aber auch Erfolge? Selbstwirksamkeit, Emotionsregulation und Bewältigungsstrategien erlernt man nicht von heute auf morgen, es geht um einen lebenslangen Lernprozess. Übrigens ist Resilienz nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wir alle kommen ständig mit irgendwelchen Krisen zurecht.
Was ist dann das Besondere?
Für die Forschung interessant ist, warum manche Menschen in extremen Krisen eine besondere Widerstandskraft zeigen. Dafür scheint es einige Mechanismen zu geben: Vielfach wurde in Studien beobachtet, dass besonders resiliente Menschen nicht so lange in Passivität verharren, sondern früh nach Möglichkeiten suchen, die ihre Situation positiv verändern könnten. Sie sehen in Niederlagen oder kritischen Situationen ein Entwicklungspotenzial und versuchen, dem Geschehen einen Sinn zu geben. Menschen, die als resilient gelten, überwinden Schmerz und Trauer schneller als andere, indem sie den Blick in die Zukunft richten, geistig flexibel bleiben und ihre Sichtweise ändern können.
Das klingt, als müsste man sich nur anstrengen, und schon klappt es mit der Resilienz…
Das wäre die falsche Schlussfolgerung. Es liegt eben nicht alles in der Hand des Individuums; die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der sozioökonomische Status spielen dabei eine Rolle, die Teilhabemöglichkeiten und viele andere strukturelle Faktoren. Wenn jemand sozial benachteiligt ist, hat er trotz aller Anstrengungen weniger Teilhabechancen. Dann wäre es zynisch zu sagen: Tu dies und das, dann kannst du wieder handeln. Resilienz ist nicht allein Sache des Einzelnen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche und politische Aufgabe, Resilienz zu fördern.
n Manche Menschen wirft so schnell nichts um. Was haben die, was anderen fehlt?
Neben der genetischen Ausstattung ist die Lebensgeschichte wichtig: Wie haben sie bislang Herausforderungen gemeistert? Welche Strategien entwickeln sie bei Niederlagen, Stress und Langeweile? Resilienz wächst in der Krise. Erst durch die Konfrontation mit schwierigen Ereignissen entwickelt man neue Kompetenzen. Was hilft, wenn man mitten in der Krise steckt, muss jeder selbst herausfinden.
Können Sie ein paar Beispiele für wirksame Resilienzstrategien geben?
Erst einmal ist es hilfreich, sich anzuschauen, wie man in stressigen Situationen reagiert: Zeige ich körperliche Symptome, gerate ich in eine negative Gedankenspirale, verdränge ich das Problem, greife ich zu Alkohol? Und dem gegenübergestellt: Über welche positiven Ressourcen verfüge ich, um den Stresspegel zu regulieren?
Wenn ich beispielsweise zum Grübeln neige, kann ich Freunden oder vertrauten Familienmitgliedern von meiner Situation erzählen, schildere meine Gedankengänge und frage sie, wie sie das betrachten. Durch einen solchen „sokratischen Dialog“ komme ich zu alternativen Sichtweisen. Durch Methoden wie progressive Muskelentspannung kann ich lernen, körperliche Stresssymptome zu regulieren. Achtsamkeitsübungen helfen dabei, Unruhe abzubauen, Energie zu schöpfen und Geschehnisse – auch unangenehme – zu akzeptieren.
Um den optimistischen Blick auf die Zukunft zu fördern, könnte ich es mit einem Glückstagebuch versuchen: Jeden Abend schreibe ich ein oder zwei Dinge auf, die mich heute glücklich gemacht haben. Das klingt banal, aber die Wirksamkeit ist wissenschaftlich belegt. Durch die bewusste Konzentration auf positive Ereignisse findet eine kognitive Umstrukturierung statt.
Eine Frage ist, wie man Ereignisse deutet: Mache ich mich selbst für alles verantwortlich, oder schreibe ich Ursachen auch externen Umständen zu? Eine gute Strategie für höhere Resilienz wäre, bei Misserfolgen auch die äußeren Faktoren einzubeziehen, aber nach Erfolgen vor allem die eigene Leistung hervorzuheben – das stärkt den Selbstwert.
Ist Religiosität auch ein Resilienzfaktor?
Sinnstiftung kann durch Quellen wie den Beruf oder die Familie hergeleitet werden, aber auch durch den Glauben. Persönliche Rituale wie Beten, Meditation, Yoga wirken stabilisierend, Glaubenswerte beeinflussen die Gedankengänge und geben Orientierung. Die Teilnahme an Veranstaltungen meiner Glaubensgemeinschaft kann mein soziales Netz stärken und mir Halt geben. Die Resilienzforschung konnte nachweisen, dass persönlicher Glauben durch Gemeinschaft und Spiritualität auch stabilisierend wirken kann.
Im Internet scheint der Begriff „Resilienz“ von Coaching-Anbietern gekapert worden zu sein. Viele versprechen Selbstoptimierung im Sinne ständiger Einsatzbereitschaft und Krisenfestigkeit. Was halten Sie davon?
Für uns am DRZ ist es sehr wichtig, einer Instrumentalisierung des Resilienz-Begriffs entgegenzuwirken. Resilienz ist keine Wunderwaffe, die aus Menschen funktionierende Einzelkämpfer macht. Selbstoptimierung ist nicht unser Ziel, absolute Stressresistenz unrealistisch. Trainingsprogramme sind keine Garantie für ein höheres Wohlbefinden. Es ist individuell ganz unterschiedlich, wer welche Resilienzfaktoren braucht und entsprechend trainieren muss. Welche konkreten Strategien zur Krisenbewältigung helfen, kann man mit Bestimmtheit erst nach der Krise sagen. Uns geht es primär darum, psychischen Dysfunktionen rechtzeitig vorzubeugen. Es ist ein Auftrag an Gesellschaft und Politik, die Infrastruktur so zu gestalten, dass Menschen gesund bleiben.
Das strapazierte Wort von der „Krise als Chance“ hat für viele einen faden Beigeschmack. Wo bitte ist in der Krise die Chance?
Das Durchleben von Krisen ist das beste Resilienztraining, da sich in der realen Krisensituation die nötigen Ressourcen entfalten. Unter dem Stichwort „der Gefahr ins Auge blicken“ können wir Krisen als Herausforderung betrachten, die eigene Resilienzfähigkeit zu entwickeln. Menschen wird oft erst in Notsituationen bewusst, wie stark sie wirklich sind.