Bald beginnen die Sommerferien – und damit steigt für manche minderjährigen Schülerinnen das Risiko einer Zwangsverheiratung im Herkunftsland. Bundesweit einzigartige Schulworkshops in Berlin sollen Auswege aufzeigen.
Wie wäre es eigentlich, jemand kennenzulernen, den man nicht besonders sympathisch findet – und trotzdem heiraten muss? Diese Frage stellt Polizeihauptkommissarin Nadine Göbel mitunter, wenn sie mit Schülerinnen und Schülern über Zwangsehen spricht. Sie ist polizeiliche Koordinatorin für interkulturelle Aufgaben in Berlin. Zusammen mit der Frauenrechtsorganisation “Terre des Femmes” betreut sie an verschiedenen Berliner Schulen Workshops zum Thema Zwangsverheiratung – ein bundesweit einmaliges Angebot.
Es findet regelmäßig vor den Sommerferien an verschiedenen weiterführenden Schulen statt. Bei Ferienreisen ins Heimatland steige das Risiko einer Zwangsverheiratung, sagt Religionswissenschaftlerin Myria Böhmecke, die bei “Terres des Femmes” Referentin zum Thema “Gewalt im Namen der Ehre” ist. Die Workshops sollen die Schülerinnen und Schüler für das Thema sensibilisieren, damit sie sich rechtzeitig Hilfe suchen können.
Die Mitarbeiterinnen verteilen in der entsprechenden Klasse Flyer von Beratungsstellen, klären über die rechtliche Situation auf und machen auch Lehrerinnen und Lehrern klar, worauf sie achten sollten, um Kinder und Jugendliche rechtzeitig zu schützen. Auch wenn Schülerinnen plötzlich von der Schule abgehen wollten, könne eine Zwangsverheiratung dahinterstecken, warnt Böhmecke. “Die Lehrer sollten besonders aufmerksam sein.”
In Berlin sind nach einer Umfrage der Gleichstellungsbeauftragten Berlin Friedrichshain-Kreuzberg von 2022 vor allem Kinder aus arabischen und türkischen Familien, aus Bulgarien und Rumänien betroffen. 91 Prozent von ihnen sind Mädchen – aber auch bei Jungen gebe es das Phänomen, sagt Böhmecke. Es existiere in sehr streng patriarchalischen Gesellschaften; Religion werde manchmal als Vorwand genutzt, obwohl keine Religion eine Zwangsverheiratung vorschreibe, erklärt die Expertin.
Das Thema drängt: Das bundesweite Hilfetelefon “Gewalt gegen Frauen” verzeichnete für das vergangene Jahr 180 Anrufe von Frauen, die sich wegen “Zwangsverheiratung” meldeten. Eine weitere Umfrage ergab für das Jahr 2022 demnach allein für Berlin rund 500 Fälle von (drohender) Zwangsverheiratung. 88 Prozent der vollzogenen Zwangsverheiratungen fanden laut Angaben im Ausland statt. Zudem müsse man von einer hohen Dunkelziffer ausgehen, sagt Böhmecke.
Am wichtigsten sei es, sich rechtzeitig Hilfe zu holen, so die Expertin: “Die meisten Betroffenen wissen, dass so etwas drohen könnte”, sagt sie. “Sie haben zum Beispiel erlebt, dass die ältere Schwester verheiratet wurde. Wir sagen dann: Wenn ihr ein schlechtes Gefühl habt, wendet Euch an eine Beratungsstelle, an Lehrer oder Schulsozialarbeiter.” Wenn die Mädchen erst einmal im Ausland verheiratet seien, sei es schwer, sie zurückzuholen – besonders, wenn sie keine deutsche Staatsangehörigkeit besäßen, warnt Böhmecke. “Nicht nur Männer sind dabei ‘die Bösen’. Auch Mütter arrangieren das”, sagt die Menschenrechtlerin. Diese seien oft selbst sehr jung verheiratet worden.
“Die Klassen wissen nicht, dass wir diese Veranstaltung durchführen. Entsprechend überrascht sind die Schülerinnen und Schüler. Man merkt richtig, wie sie plötzlich wach werden, wenn sie uns da sitzen sehen”, sagt Göbel. Der 47-jährigen Beamtin ist genau in Erinnerung geblieben, wie überrascht sie war, festzustellen, dass das Thema für junge Menschen in Deutschland tatsächlich relevant ist. “Das war bei meinem ersten Workshop. Eine Gruppe von Mädchen sagte damals, dass das bei ihnen völlig normal sei, dass die Ehen von den Eltern arrangiert werden, und zwar, bevor sie 18 Jahre alt sind. Sie fanden das auch gar nicht schlimm.”
Sie erklärt in den Workshops die rechtliche Seite: Dass man in Deutschland nicht unter 18 Jahren heiraten kann, zum Beispiel, und dass Zwangsehen an sich strafbar sind. Wichtig sei dabei, den Jugendlichen klar zu machen, dass die Polizei die Betroffenen in ihrer Situation ernst nehme und sie sich mit Fragen an sie wenden könnten: “Wenn sie zum Beispiel nicht wollen, dass ihre Eltern strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden, können sie etwa von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Auch dabei hilft ihnen die Polizei.”
Die eigene Familie zu lieben, bei ihr sein zu wollen, auch wenn eine Zwangsverheiratung droht: Das ist nach Meinung von Expertin Böhmecke der Hauptgrund, dass Betroffene manchmal lange zögern, bevor sie versuchen, aus der Situation rauszukommen. Denn: Dies sei in einer akuten Notsituation wie einer bevorstehenden Zwangsverheiratung im Ausland zunächst meist mit dem Verlassen der Familie verbunden – ohne diese über den neuen Aufenthaltsort zu informieren. Betroffene fänden Unterschlupf etwa in spezialisierten Schutzeinrichtungen, Beratungsstellen unterstützten dabei.
“Eine Trennung von der Familie, wenn auch erst mal nur zeitlich befristet, ist in den allermeisten Fällen notwendig. Und das ist ein großer Schritt. Viele wollen zum Beispiel auch die jüngeren Geschwister nicht verlassen”, sagt sie. “Wir versuchen, den Jugendlichen klar zu machen, dass der Bruch mit der Familie auch stattfindet, wenn man ins Herkunftsland verschleppt wird, um dort verheiratet zu werden und fortan zu leben.” Weitere Probleme kämen in solchen Fällen womöglich hinzu: das Leben in einer fremden Großfamilie, möglicherweise Gewalt und mangelnde Kenntnis der Infrastruktur vor Ort.
Der Saal vor Ort ist gebucht, das Essen bestellt, alles arrangiert: In so einer Situation sei es sehr schwer, “Nein” zur erzwungenen Ehe zu sagen. “Deshalb ist es wichtig, dass es gar nicht erst dazu kommt”, warnt Böhmecke.