Einmal pro Woche lädt Christine Stapf einen Berg Lebensmittel in der Gießener Stephanusgemeinde ab: arabisches Brot, frisches Gemüse, Kartoffeln, Marmelade. Vier junge Männer leben gerade in der Gemeinde, sie befinden sich unter dem Schutz des Kirchenasyls. Stapf engagiert sich seit vielen Jahren für Flüchtlinge. „Es ist schön, mit Leuten aus anderen Kulturen in Kontakt zu kommen“, sagt sie.
Das Kirchenasyl hat in der evangelischen Stephanusgemeinde eine lange Tradition. Bis vor drei Jahren liefen Kirchenasyle in Gießen unter der Regie der einzelnen Gemeinden. Dann übernahm das Evangelische Dekanat sie als Aufgabe des gesamten Dekanats. In den vergangenen drei bis vier Jahren sei rund 100 Flüchtlingen Kirchenasyl gewährt worden, berichtet der Flüchtlingsreferent Ralf Müller.
Einer davon ist Abdul. Auch er lebte eine Zeit lang in dem Gebäude der Stephanusgemeinde. Der 25-Jährige schloss in Syrien sein Medizinstudium ab – er möchte als Kardiologe arbeiten. Zu den Gründen seiner Flucht sagt er nur: „Ich musste so schnell wie möglich ins Ausland.“
Abdul reiste auf verschlungenen Wegen nach Europa, über viele Hindernisse gelangte er vor einem Jahr nach Deutschland. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Er fiel unter die Dublin-Regelung: Deutschland wollte ihn in das Land zurückschicken, über das er in die EU einreiste, in seinem Fall Polen. Das Kirchenasyl in Gießen bewahrte ihn davor.
Der Syrer hat mittlerweile seine Anerkennung als Flüchtling erhalten. Es sehe jetzt gut für ihn aus, erzählt Abdul in fließendem Deutsch, das er in dem einen Jahr gelernt hat. Er paukte auch medizinische Fachausdrücke, zwischenzeitlich bestand die Aussicht auf einen Job in der Pflege. Abdul sagt: „Ich habe das Kirchenasyl immer als Chance gesehen. Es gab mir die Kraft, mein Deutsch zu verbessern.“ Er habe intensive Unterstützung bekommen. „Aber ich hatte immer Angst, denn das Kirchenasyl ist kein Gesetz.“
Das Kirchenasyl, erklärt Ralf Müller, beruhe lediglich auf einer Vereinbarung zwischen dem Bundesamt für Migration und den Kirchen. Es gebe aber ein Verfahren: Die Kirchen melden das Asyl am Tag des Einzugs an und verfassen ein Dossier, in dem sie ihre humanitären Gründe erläutern. „Es ist ein hilfloses Flehen: Schaut euch diesen Fall nochmal an.“
Nazar stammt aus Afghanistan. Für die Deutschen und für die US-Amerikaner arbeitete er als Ortskraft. Seit Februar befindet er sich in Gießen im Kirchenasyl. Nazar tippt etwas in die Übersetzungsfunktion seines Handys ein: Sein Vater und einer seiner Söhne seien von den Taliban ermordet worden. Obwohl er für die Deutschen gearbeitet habe, dürfe er nicht hierbleiben. Er hofft auf ein Visum für die USA, das sein dort lebender Bruder besorgen will.
Neben der Stephanusgemeinde nutzt das Dekanat weitere Unterkünfte in der Innenstadt, aktuell sind 14 Menschen untergebracht. Müller erhält pro Woche etwa 15 Anfragen nach Kirchenasylen, oft Serienmails aus ganz Deutschland. Die Entscheidung, wer ins Asyl darf, treffe man gemeinsam mit den Fachleuten der kirchlichen Asylverfahrensberatung. In einem Fall, als ein Flüchtling zurück nach Spanien geschickt werden sollte, hätten die Kollegen gesagt: „Das ist okay.“
Im vergangenen Jahr suchten in Gemeinden der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau insgesamt 174 Erwachsene und 29 Kinder Schutz in einem Kirchenasyl. Es existiere eine politisch und medial erzeugte Stimmung gegen Flüchtlinge, sagt Müller. In seiner Arbeit erlebe er aber eine andere Haltung. Viele sagten: „Hier sind Leute, um die wir uns kümmern müssen.“ In der Zusammenarbeit mit Kommunen, Behörden und der Polizei „gibt es keinerlei Feindseligkeiten“. Der Referent sieht es so: „Als Kirche kümmern wir uns um Menschen in Not, und dazu gehören auch Flüchtlinge.“