Martin Luther ist bekannt für Streitlust und Polemik. Darin machen ihm einige Theologen derzeit alle Ehre, wenn es um den Umgang mit 500 Jahren Reformation geht. In diversen Artikeln attackieren sie sich seit Wochen gegenseitig und werfen mit Polemik wie „aufgepumpter Stimmungsblase“, „theologischer Geisterfahrt“ und „besserwisserischer Ignoranz“ nur so um sich.
Der Streit hat sich seit Jahren angebahnt
Angebahnt hat sich der Streit schon seit Jahren. Immer wieder warfen Wissenschaftler der evangelischen Kirche vor, 500 Jahre nach dem legendären Thesenanschlag von Martin Luther in Wittenberg dessen Lehre zu verwässern und das Jubiläum zu einem mainstreamtauglichen Event zu verunstalten.
Anfang März dann machte sich Thies Gundlach, theologischer Vizepräsident des Kirchenamts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), in der Zeitschrift „zeitzeichen“ Luft – wohl nicht abgestimmt mit seinen Kollegen im Kirchenamt: Er attestierte den Wissenschaftlern eine „grummelige Meckerstimmung“ und formulierte seine Forderung: „Zuarbeit für große Glaubensentfaltung, die Gottesbewusstsein und Weltrationalität auch im 21. Jahrhundert zusammenbindet.“
Zwei der angegriffenen Theologieprofessoren aus Göttingen kontern im April-Heft von „zeitzeichen“: Der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann und der Systematiker Martin Laube werfen Gundlach eine „theologische Geisterfahrt“ vor. Dieser habe kein Interesse an „Bildung und Förderung theologischer Reflexions- und Argumentationskultur“, schreiben sie. „Eine gehaltvolle Gegenwartsdeutung der Reformation ist freilich im Twitterformat nicht zu haben.“
Einzigartige Möglichkeit für Kirche und Theologie
Kirche und wissenschaftliche Theologie hätten mit dem Reformationsjubiläum einzigartige Möglichkeiten, auf Kernanliegen hinzuweisen, beharkten sich aber gegenseitig, führte als nächstes Isolde Karle, Professorin für Praktische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum, in der Mai-Ausgabe von „zeitzeichen“ aus. Jenseits komplizierter Gefühlslagen gehe es in der Kontroverse um das Verhältnis von akademischer Theologie und Kirche, schreibt Karle. „Mit diesem steht es gegenwärtig nicht zum Besten.“ So fühle sich die Kirche gelegentlich von den akademischen Theologen im Stich gelassen. Umgekehrt hätten Wissenschaftler in den vergangenen Jahren den Eindruck gewinnen können, dass Kirchenleitungen nicht immer Interesse an wissenschaftlicher Reflexion und Kritik hätten. Eine solche „Entfremdung“ sei schädlich.
In der Auseinandersetzung geht es zum einen um die Frage, wie man in säkularer Umgebung ein historisches Glaubensereignis samt seiner enormen gesellschaftlichen Auswirkungen feiern sollte. Diskutiert wird zudem das Verhältnis zwischen der Institution Kirche und der theologischen Wissenschaft. Und dahinter steht die Suche nach dem Kern der Theologie Luthers und wie man sie heute vermittelt.
Tatsächlich legte die EKD Wert darauf, 500 Jahre Thesenanschlag in der ganzen Gesellschaft samt der Politik zu feiern. Dazu gehören Playmobil-Luther und Tourismus-Konzepte ebenso wie der bundesweite arbeitsfreie Feiertag am 31. Oktober 2017. Dabei sieht auch die Theologieprofessorin Elisabeth Gräb-Schmidt die Gefahr von „vielleicht flachen bis sehr flachen Botschaften“. Doch „wir müssen die Menschen in der Breite erreichen. Luther selbst hat das Evangelium für das Volk gepredigt, ein zutiefst emanzipatorisches Programm“, sagt sie auf Nachfrage.
Gräb-Schmidt kennt beide Seiten: als Mitglied im Rat der EKD die verfasste Kirche und als Theologie-Professorin in Tübingen die Wissenschaftslandschaft. „Ich bin beiden Seiten verpflichtet“, sagt sie. Die Wissenschaft könne nicht „willfähriges Instrument der Kirche sein“. Aber die Wissenschaft habe auch die Aufgabe, den Kern der Reformation „in säkulare Kontexte zu übersetzen“.
Und da sieht sie ihre Zunft gefordert: Sie müsse Luthers Lehre vom Zusammenhang von Freiheit, Glaube und Sünde neu für die Gegenwart formulieren – und so zum Beispiel Bestrebungen widersprechen, Luther für einen rein individualistisch geprägten Freiheitsbegriff zu vereinnahmen. „Luther wusste genau um die Anfälligkeit des Menschen, die sich heute in der modernen Massengesellschaft zeigt.“
Ökumene als Verrat an der evangelischen Sache?
Auch an der starken ökumenischen Ausrichtung gibt es Kritik. Kaufmann und Laube wollen die großen Fortschritte in der Annäherung an die Katholiken zwar nicht missen, sprechen aber auch von einer „verordneten Umetikettierung zu einem ökumenischen ,Christusfest‘“ und warnen die EKD vor einem „Verrat an der evangelischen Sache“.
In der Sache kann Gräb-Schmidt die Kritik nachvollziehen. Der Ausdruck Christusfest „verwischt, dass Katholiken und Protestanten einen unterschiedlich direkten Zugang zu Christus haben“. Doch für die Feiern entscheidender ist für sie der Aufschwung des Miteinanders. Ihre Zwischenbilanz: „Die Feier des Reformationsjubiläums ist eine Gratwanderung – und wir sind noch nicht heruntergefallen.“ (S. auch Seite 5.)