Der erste Artikel des Grundgesetzes wird von verschiedenen Interessengruppen für die unterschiedlichsten Anliegen in Anspruch genommen. Verfassungsrechtler Josef Isensee warnt vor einer Banalisierung der Verfassung.
Der Bonner Verfassungsrechtler Josef Isensee warnt vor einer politischen Vereinnahmung und Banalisierung der Menschenwürde. Sie sei leider auch zur “billigen Münze der Politik” geworden, sagte der emeritierte Staatsrechtler in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes.
“Es gibt viele, die versuchen sich dieser Verfassungsnorm zu bemächtigen”, so Isensee weiter. Dies geschehe oft “ohne Rücksicht auf ihre Verdeutlichung durch andere Grundrechte”. Mit Blick auf das Jubiläum sagte er, Deutschland habe allen Grund zu feiern: “Wir haben die erfolgreichste Verfassung der deutschen Geschichte. Sie genießt als gemeinsame Basis aller Deutschen hohe Zustimmung und strahlt aus auf die Welt.”
Der Rechtswissenschaftler begrüßte die Weiterentwicklung der Grundrechtsidee hin zu grundrechtlichen Schutzpflichten. Das betreffe etwa die staatliche Garantie für die Voraussetzungen eines menschenwürdigen Zusammenlebens oder den Schutz vor Übergriffen durch andere. Die Verfassung strebe eine Gemeinsamkeit der Werte und Normen an. Die Gemeinsamkeit entwickele sich durch Interpretation, je nachdem wie eine Generation sie verstehe: “Sie ist eine Daueraufgabe für das Gemeinwesen, um das zu erwerben, was sie schon besitzt, und zwar durch aktuelles Verstehen, Interpretieren und Anwenden.”
Kritisch bewertete Isensee, dass das Bundesverfassungsgericht nach seiner Beobachtung dem Trend folgt, “Selbstbestimmung und Autonomie des Menschen immer stärker zu gewichten und auszuweiten”. Das gelte etwa für das Urteil zur Aufhebung des Verbots der geschäftsmäßigen Beihilfe zum Suizid: “Die Verfassung schützt das Recht auf Leben und die freie Entfaltung der Persönlichkeit, sie sieht aber nicht das Recht auf freie Selbstvernichtung vor”, fügte er hinzu: “Die Verfassung beruht als Grundlage des Zusammenlebens auf der Option für das Leben.”
Isensee sprach sich auch gegen Änderungen bei der Abtreibungsregelung aus. Das Bundesverfassungsgericht habe verbindlich entschieden, dass das menschliche Leben von Anfang an dem Schutz des Rechts auf Leben und der Menschenwürde unterliege und dass die Selbstbestimmung der Schwangeren diesen Schutz grundsätzlich respektieren müsse. Das Urteil sei zwar dreißig Jahre alt. Dasselbe gelte aber für die Gegenargumente. Er hielt der Ampel-Regierung vor, den bestehenden Konsens aufkündigen zu wollen, “um letztlich die Fristenlösung wieder einzuführen”.