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Raus aus der Empörung

Diakoniepräsident Ulrich Lilie findet im Koalitionsvertrag durchaus positive Signale für künftiges Regierungshandeln. Gleichzeitig wünscht er sich eine intensivere Diskussionskultur

INTERTOPICS/pa

Er steht an der Spitze des wichtigsten evangelischen Sozialverbands: Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschlands (Foto). Der Verband, dessen Mitglieds-organisationen rund 500 000 hauptamtliche und mehr als 400 000 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zählen, hat in der deutschen Sozialpolitik Gewicht. Mit den Ergebnissen des jetzt geschlossenen Koalitionsvertrags ist Lilie nicht in allen Punkten einverstanden. Eine „neue Härte“ sieht er in der Flüchtlingsfrage. Die verabredete Wohnungspolitik jedoch ist für ihn ein Schritt in die richtige Richtung. Nach dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen hat Benjamin Lassiwe mit ihm gesprochen.

Präsident Lilie, ist eine Große Koalition gut oder schlecht für Deutschland?
Wichtig ist, dass wir jetzt schnell stabile Regierungsverhältnisse in Deutschland bekommen. Denn es gibt so viele drängende gesellschaftliche, sozialpolitische und europapolitische Fragen, die angegangen werden müssen. Und nach allem, was jetzt verhandelt und sondiert wurde, sieht es so aus, dass eine Große Koalition die realistischste Option dafür ist.

Eines der großen Probleme in Deutschland sind bezahlbare Wohnungen. Ist da aus Ihrer Sicht in den Koalitionsverhandlungen genug erreicht?
Die Maßnahmen der Großen Koalition sind ein erster Schritt in die richtige Richtung: Erfreulich ist das Bekenntnis zum sozialen Wohnungsbau. Aber wir müssen noch einmal neu nachdenken, wie man die Spekulation mit Wohnraum eindämmen kann. Das ist etwas, woran wir die neue Bundesregierung messen werden.

Was können die Kirchen und die Diakonie an dieser Stelle tun?
Die Wohnungsbaugesellschaften der Kirchen sind an vielen Stellen schon mit pragmatischen und unbürokratischen Lösungen engagiert. Das werden sie auch weiter bleiben: Wir werden weiter dafür sorgen, dass Wohnraum bezahlbar bleibt. Es ist zum Beispiel vorstellbar, dass wir unsere großen Areale auch für einfache Lösungen für die immer größere Zahl von Wohnungslosen in Deutschland nutzen. Die Diakonie in Hamburg etwa stellt Container auf für die Menschen, die nicht in große Einrichtungen gehen wollen. Von solchen Beispielen brauchen wir mehr.

In den sozialen Netzwerken wird immer wieder über die Frage diskutiert, ob genug für Wohnungslose in Deutschland getan wird. Wie beantwortet die Diakonie diese Frage?
Wir haben gerade eine große Kampagne gestartet: Die heißt: #zuhören. Und wir wollen, dass wir alle in dieser Kampagne unter der Überschrift „Unerhört! Diese Obdachlosen“ genau aus dieser Skandalisierungshaltung und Empörungshaltung herauskommen, und diesen Menschen und ihren Sorgen und Nöten zuhören. Ich habe in diesen Tagen mit einem Seelsorger für Wohnungslose in Bremen gesprochen, der mir erzählt hat, wie schwierig es für solche Menschen ist, an frisches Wasser zu kommen, wenn sie nicht in große Einrichtungen gehen. Da müssen wir unbürokratische Lösungen finden: Duschräume, Möglichkeiten zur Wasserversorgung und Übernachtungsplätze in Containern oder Leichtbauweise.

Eines der Themen im Koalitionsvertrag ist auch die Situation in der Pflege. Was halten Sie von allgemeinverbindlichen Tarifverträgen?
Es ist ein vernünftiger Weg, solange das kirchliche Selbstbestimmungsrecht und der kirchliche Weg der Tariffindung gewährleistet sind. Ich freue mich, dass wir da in guten Gesprächen mit der Gewerkschaft ver.di sind, die signalisiert, dass sie auch unseren Weg der Tariffindung akzeptiert. Es müssen aber vor allem zwei weitere Aspekte politisch umgesetzt werden: Das eine ist die Allgemeinverbindlichkeit. Die Tarifverträge müssen für alle gelten, auch für unsere privaten Konkurrenten. Und es muss die verbindliche Refinanzierung gewährleistet sein. Die Tarifverträge dürfen nicht zu Lasten der zu Pflegenden und ihrer Angehörigen gehen. Auf den Pflegenotstand brauchen wir eine strukturelle Antwort.

Immer mehr Menschen können sich die Pflegekosten nicht mehr leisten, die „Hilfe zur Pflege“ wird immer öfter bei den Sozialämtern beantragt. Was kann die Diakonie in dieser Situation machen?
Die Diakonie alleine kann da wenig machen. Das Problem ist, dass viele Menschen eine Erwerbsbiographie haben, mit der sie auf ein Rentenniveau kommen, mit dem sie die teuren Pflegeplätze nicht bezahlen können. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen im Alter auch eine anständige Rente bekommen. Sonst zahlen wir alle den Preis dafür. Und wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Pflege in einer Gesellschaft finanzieren, in der immer mehr Menschen alt und pflegebedürftig werden.

Muss der Bund, müssen die Länder einen höheren Anteil an den Pflegekosten übernehmen?
Darüber müssen wir nachdenken. Aber wir werden auch eine gemeinsame Verantwortung brauchen, so wie in der Bildungspolitik, wo ja Gott sei Dank das Kooperationsverbot gekippt wurde.

Eines der wichtigen Themen der letzten Jahre ist die Flüchtlingsfrage. Wie bewertet die Diakonie die Einigung im Koalitionsvertrag  zum Flüchtlingsnachzug?
Da sind wir ziemlich enttäuscht. Man hat eine sehr engherzige Lösung gefunden. Viele Pläne, vom Familiennachzug bis zu den euphemistisch Ankerzentren genannten neuen Großeinrichtungen, sehen danach aus, als wenn eine neue Härte das Signet der neuen Politik werden soll. Beim Familiennachzug etwa hätten wir uns eine großherzigere Lösung gewünscht. Vieles, was da jetzt ausverhandelt worden ist, ist keine gute Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration.

Es gibt aber auch viele Menschen in Deutschland, denen auch die jetzige Regelung noch zu großzügig ist. Ist ein großzügiger Familiennachzug überhaupt noch gesellschaftlich vermittelbar?
Ein großzügigerer Familiennachzug wäre gut vermittelbar, wenn man ihn gut vermittelt. Das genau ist Aufgabe der Politik: Notwendiges zu vermitteln. Und für die erfolgreiche Integration einer großen Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ist es eben wichtig, dass die Umgebung und der Umkreis der nächsten Familienangehörigen vorhanden ist. Das ist eine ganz, ganz wesentliche Voraussetzung.

Sie sprachen eben schon über die neue Kampagne der Diakonie. Da geht es auch um den Umgang mit der AfD und deren Wählern. Wie will sich die Diakonie da positionieren?
Wir wollen grundsätzlich in dieser Gesellschaft darauf hinweisen, dass sehr viel übereinander gesprochen wird, und das meistens sehr reflexhaft mit vielen Zuschreibungen und Vorurteilen, und oft im Gestus der Empörung. Das ist der eine Teil der Kampagne. Und das andere sind die Geschichten hinter den Geschichten. Diakonie ist immer dann gut gewesen, wenn sie wirklich zuhört.
„Was willst du, das ich dir tun soll?“ lautet die Frage von Jesus an den blinden Bartimäus. Selbst der Meister fragt den Notleidenden. Wir müssen mit den Menschen reden, auch mit denen, die aus unterschiedlichen Gründen AfD wählen, zum Beispiel weil sie nicht mitkommen, wenn sich dieses Land so rapide verändert. Oder weil sie in Regionen leben, von denen sie sagen, wir sind hier endgültig abgehängt. Oder weil sie ihre Lebensgeschichte und ihren Beitrag zum Ganzen nicht gewürdigt sehen. Uns geht es darum, dass wir endlich in Diskurse kommen, gerne auch in strittige Diskurse.

Redet Ulrich Lilie auch mit Alexander Gauland?
Natürlich redet Ulrich Lilie auch mit Alexander Gauland, aber selbstverständlich strittig. Ich kann im Umgang mit der AfD eigentlich nur sagen: Gelassen bleiben, mutig, und sich öffentlich mit der Frage auseinandersetzen, wer die besseren Antworten für komplexe Fragen in einer sich transformierenden Gesellschaft hat.