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Paul Nolte im Interview

Paul Nolte blickt als Akademiepräsident zurück

Stimme einer neuen religiösen Sensibilität

Paul Nolte (58), Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin, nimmt in diesen Tagen Abschied als ehrenamtlicher Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin. Im Interview mit Uli Schulte Döinghaus blickt er zurück – und nach vorn

Herr Professor Nolte, in der nächsten Woche legen Sie einen schönen Titel ab, dann werden Sie nicht mehr Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin sein. Warum eigentlich nicht?

Nach zwölf Jahren ist es gut, wenn sich Perspektiven verändern. Vielleicht gibt es frischere Blicke auf die Dinge. Dafür ist auch deswegen der richtige Zeitpunkt, weil das Feld bestellt ist, etwa mit dem Abschied des langjährigen Direktors, Rüdiger Sachau, und dem Übergang zu Friederike Krippner. Die Suche nach einer neuen Akademieleitung war ein schwieriger und kraftraubender Prozess. Am Ende haben wir mit Friederike Krippner eine hervorragende Besetzung gefunden, eine ganz tolle Direktorin.

Wenn Sie die Zeit Revue passieren lassen, welches sind Ihre Erinnerungen an die Amtszeit, welches waren Ihre Höhepunkte?

Am meisten stolz bin ich darauf, dass wir – das klingt jetzt etwas defensiv – unter meiner Mitwirkung die Akademie gut über die Zeiten gebracht haben, zumal zu einer Zeit, in der Evangelische Akademien in vielen anderen Landeskirchen unter Druck gekommen sind. Uns ist es hier in Berlin gelungen, die Akademie neu zu positionieren, aus ihr stärker so etwas wie einen zivilgesellschaftlichen Thinktank zu machen, noch dazu in dieser seit 1999 immer dichter besetzten Berliner Landschaft von Denkfabriken. In der Hauptstadt ist der „Wettbewerb“ unterschiedlichster Akademien und Thinktanks einzigartig.

Was waren Ihre Aufgaben als ehrenamtlicher Präsident?

Jedenfalls nicht zuerst die eines Grüßonkels, der mit schönen Worten eine Veranstaltung eröffnet. Es ist in hohem Maße ein „operatives“ Ehrenamt. Die Akademie ist eine gemeinnützige GmbH, ihr Präsident also eine Art Aufsichtsratsvorsitzender, indem er die Gesellschafterversammlung leitet. Sie entscheidet über die Personalstruktur des Hauses, über neue und alte Arbeitsfelder, über thematische und strategische Ausrichtungen, über Finanzierungsstrategien und über die Balance der beiden Gesellschafter, der EKD und der EKBO. Also: Sitzungen, Gespräche, Telefonate. Aber auch das war befriedigend!

Die Leitung der Evangelischen Akademie zu Berlin ist offenbar ein komplexes Gebilde mit unterschiedlichen Gremien.

Diese Komplexität funktioniert überraschend gut. Sie bildet, wenn man den Staat-Kirche-Vergleich bemüht, ein Stück Normalität des Föderalismus der Kirche ab. In gewisser Weise ist die Komplexität dieser Akademie auch ein Stück gelebte Bundesrepublik.

Der Einfluss nach innen ist das eine. Wie ist es um die Resonanz außerhalb der Kirche und ihrer Institutionen bestellt?

Man muss sich Mühe geben, in einer zunehmend digitalen Mediengesellschaft wahrnehmbar oder erkennbar zu sein. Mir kam gewiss zugute, dass ich als Zeithistoriker und zeitdiagnostischer Kommentator öffentlich bekannt und medial vernetzt war. Zugleich hat mich bisweilen irritiert, dass wissenschaftliche und kirchliche Präsenz sich in voneinander getrennten Sphären abspielte.

Was soll die Evangelische Akademie? Was ist ihre Marke?

Es ist eine evangelisch getragene Reflexion über drängende Zeitfragen von Gesellschaft und Politik – und auch Kirche, in erster Linie aber kein binnenkirchlicher Reflexionsraum. Die Akademie ist auch die evangelische Antwort auf eine neue Sensibilität für Fragen der Religionen im gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Raum.

Woher kommt diese Sensibilität in Zeiten, wo sich viele Christen von ihren Kirchen abwenden?

In kaum einem vergleichbaren Land spielen Religion und Kirchen eine so große Rolle als Impulsgeber für Debatten. Das ist einfach eine empirische Beobachtung. Wie selbstverständlich ist der Rat religiöser Eliten gefragt, wenn es um aktuelle ethische Streitfragen geht, zuletzt etwa beim Thema „Assistierter Suizid“. Oder um politische Entwicklungen wie beim Umgang mit Geflüchteten, Pflegenotstand, Fremdenfeindlichkeit, Populismus. Evangelische Akademien sind gut darin, diese Themen aufzugreifen, Meinungsstreit zu organisieren, neue Impulse in den öffentlichen Raum zu geben. Etwa beim Thema „Interreligiöser Dialog“, das die Evangelische Akademie zu Berlin maßgeblich prägt.

Haben Sie eine persönliche thematische Leidenschaft eingebracht?

Stark gepflegt und gefördert habe ich das Thema „Demokratie“, ihre Geschichte, ihre aktuellen Gefährdungen, die Zukunft der Demokratie. Im Thema „Demokratische Kultur“ verbindet sich sehr gut die Doppelaufgabe der Evangelischen Akademie zu Berlin – als Stimme des Protestantismus in der Hauptstadt, aber auch als Resonanzraum in den brandenburgischen und Lausitzer Regionen der EKBO.

Hat unsere Demokratie in der Pandemie Schaden genommen?

Nein, sie hat sich aber auch nicht mit Ruhm bekleckert. Nach vielen Jahren der Schönwetterdemokratie war jetzt mal schlechtes Wetter. Da hätten wir besser darin sein können, demokratische Verfahren, Debatten und Entscheidungen im Parlament zu treffen und nicht den kleineren Zirkeln von Experten zu überlassen und, wie man sagt, „der Stunde der Exekutive“. Die Zivilgesellschaft, zu der die Kirchen gehören, darf in einer solchen Situation nicht nur dienstbar sein und sich in eine von der Regierung organisierte Wagenburg der Abwehr von Übel eingliedern. Auch die evangelische Kirche hätte gelegentlich widerspenstiger sein, hätte bisweilen bohrender nachfragen können – etwa so, wie sie das auf dem Höhepunkt der „Flüchtlingskrise“ 2015 eindrucksvoll tat und bis heute tut. Also, ich sehe viele spannende Veranstaltungen voraus, die unseren Umgang mit „Corona“ kritisch reflektieren.

Am 30. Juni wird der Präsident der Akademie, Professor Paul Nolte, sein Amt abgeben. Seit Oktober 2009 ist er Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin. Der Professor für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin übernahm das Amt von dem Publizisten Robert Leicht. Zuvor war er der Akademie bereits drei Jahre lang als Mitglied des Beirates verbunden. Der Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin ist zugleich Vorsitzender der Gesellschafterversammlung der von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) gemeinsam getragenen gemeinnützigen GmbH und wird vom Rat der EKD berufen.

Die nächsten Veranstaltungen der Evangelischen Akademie zu Berlin sind ein transatlantisches Online-Gespräch auf Englisch am Donnerstag, den 24. Juni: „Jewish-Christian-Feminist Dialogue on the Politics of Memory“. Eine Online-Tagung am 25. und 26. Juni zum Thema „Maria Magdalena und die Apostelinnen. Zeuginnen der Wahrheit“ und am Donnerstag, den 1. Juli, ein Abendforum im Haus der EKD in Berlin-Mitte zu 1 700 Jahren Judentum in Deutschland. Informationen zu diesen und weiteren Veranstaltungen im Internet unter: www.eaberlin.de