Ortrun Bertelsmann schlägt mitten im Leben noch einmal einen völlig neuen Weg ein. Die 48-Jährige studiert berufsbegleitend Evangelische Theologie und ist damit auf dem Weg ins Pfarramt.
Die AT-Vorlesung beginnt mit einem Bild. „Was sehen Sie?“, fragt Michaela Geiger, Professorin für Altes Testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. „Chagall“, sagt jemand aus dem Kurs. „Menschen, die zusammen essen.“ „Das Pessach-Mahl.“ „Einen – Eierbecher?“ „Den Würgeengel.“ „Genau“, sagt Geiger. „Und – steht das so eigentlich in Texten, mit denen wir uns gerade beschäftigen?“
Präsenz-Kurswoche des berufsbegleiteten Masterstudiengangs Evangelische Theologie, erster Jahrgang. Mit dabei: Ortrun Bertelsmann, 48 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder, tätig in einer Naturschutzbehörde im Südosten Brandenburgs – und jetzt auf dem Weg ins Pfarramt. So jedenfalls der Plan.
In der Vorlesung geht es jetzt um die biblischen Quellen für das Pessach-Fest. Die sind gar nicht so einheitlich, wie man sie als evangelisch aufgewachsene Christin kennt. Michaela Geiger hat eine Übersetzung von 5. Mose 16 an die Wand projiziert. Die Studierenden, 14 vor Ort, vier per Zoom zugeschaltet, diskutieren über hebräische Wortfelder, ältere Traditionslinien und redaktionelle Überarbeitungen. Ortrun Bertelsmann hat den Laptop mit einigen vorbereiteten Skripten vor sich auf dem Tisch stehen; ab und zu macht sie von Hand ein paar Notizen. „Es ist einfach toll, sich so intensiv mit diesen Texten beschäftigen zu können“, sagt sie in der Pause bei Kaffee und Keksen. „Besonders jetzt, wo ich mir keine Gedanken mehr über die blöden Sprachen machen muss.“
Ja, die Sprachen, Hebräisch und Altgriechisch – eine hohe und durchaus umstrittene Hürde für die Theologinnen und Theologen in dem neuen Studiengang. Ortrun Bertelsmann hat sie geschafft, aber es war ein harter Kampf: Monate, in denen sie statt um 6 Uhr schon um 5 aufstand, um vor dem Frühstück noch eine Stunde Vokabeln und Formen zu büffeln; unzählige Online-Tutorien, Übersetzungen und Probeprüfungen. Für Hebräisch brauchte sie zwei Anläufe. „Umso besser fühlt es sich an, mit dem Studium jetzt so richtig durchstarten zu können“, sagt die angehende Theologin.
Neugier und Lust auf Herausforderungen
Wie kommt man auf die Idee, mitten im Leben einen völlig neuen Weg einzuschlagen, noch einmal zu studieren und dann in einen ganz anderen Beruf zu wechseln? Zum einen war da ein gutes Maß an Frustration über die aktuelle Arbeitsstelle, an der es wenig Entwicklungsmöglichkeiten und viel politischen Widerstand gegen die Landschaftschutzmaßnahmen gibt, die Bertelsmann verantwortet.
Vor allem aber spürt sie Neugier und Lust auf Herausforderungen. „Das Theologiestudium hat mich schon als Jugendliche gereizt“, erzählt Bertelsmann. Damals war sie in der Jugendarbeit ihrer Heimatgemeinde im ostwestfälischen Halle aktiv. Jugendkreise, Bibelabende und Sommerfreizeiten in Norwegen – es gab viele Möglichkeiten, sich mit dem Glauben auseinanderzusetzen. Nach dem Abitur entschied sie sich jedoch für einen anderen beruflichen Weg, machte eine Ausbildung als Landschaftsgärtnerin und studierte Landschaftsarchitektur.
Aber Kirche und Glaube blieben Teil ihres Lebens. In Rahnsdorf im Osten Berlins engagiert Ortrun Bertelsmann sich in der evangelischen Gemeinde, unter anderem als Kirchengemeinderatsvorsitzende. „Bei all den Aufgaben, die ich da übernehme – von Andachten über die Vorbereitung und Durchführung der monatlichen Sitzungen bis hin zur Organisation und Leitung eines Kinder-Musicals – habe ich schon manchmal gedacht: Pfarrerin könnte ich auch“, erzählt sie.
Einen Kurs zur Bibelerzählerin hat sie absolviert, über eine Ausbildung zur Prädikantin bereits nachgedacht. Was sie dabei jedoch störte, war die Selbstverständlichkeit, mit der die Kirche erwartet, dass Ehrenamtliche diesen Dienst gratis übernehmen. „Als Kirchengemeinderatsvorsitzende zeichne ich die Rechnungen für die Orgeldienste ab – dafür gibt es 55 Euro“, sagt Bertelsmann. „Und für mich als Prädikantin gar nichts? Das wollte mir nicht recht in den Kopf.“
Im Sommer 2019 kam dann ein Anruf von ihrer Schwester, die an einer diakonischen Fachhochschule tätig ist: „Du, da gibt es jetzt einen neuen Studiengang – wäre das nicht was für dich?“ Ortrun Bertelsmann informierte sich, sprach mit ihrer Pfarrerin, ihrer Familie – und rechnete. Denn 1000 Euro Studiengebühren im Semester plus Semesterbeitrag, Unterkunft während der Präsenzphasen und Fahrtkosten sind nicht ohne. Auch der Zeitplan ist eine Herausforderung: Präsenzwochenenden und ganze Wochen müssen mit Beruf und Familie koordiniert werden; gut die Hälfte des Jahresurlaubs geht dabei drauf. Und dann ist da noch das Vorbereiten der Lehrveranstaltungen, Lernen für Prüfungen und Schreiben von Hausarbeiten, während der ganz normale Wahnsinn zwischen Berufstätigkeit, Familienarbeit und Ehrenamt weiterläuft.
„Ich habe zwischendurch ganz schön gezweifelt, ob ich das wirklich schaffe“, erinnert sich Bertelsmann. „Aber mein Mann meinte: Mach das. Und irgendwann sagte meine Jüngste: ,Mama, warum überlegst du eigentlich noch? Du willst es doch sowieso!‘ Und damit hatte sie recht.“
Mit der Bewerbung auf einen Studienplatz fing tatsächlich ein neues Kapitel im Leben an. Plötzlich waren da Anforderungen, mit denen sich Bertelsmann seit ihrem Studium vor mehr als 20 Jahren nicht mehr auseinandersetzen musste: Eine Prüfung in Bibelkunde, ein Kolloquium und ein theologisches Essay zum Thema Flucht und Willkommenskultur waren Zugangsvoraussetzung für die Zulassung. „Alle, die sich beworben hatten, haben zwar einen Studienabschluss“, erklärt Bertelsmann, „aber das waren für die meisten von uns doch ganz unbekannte Stoffe. Außerdem ist es eine echte Herausforderung, aus dem praktischen Berufsleben wieder in das theoretische wissenschaftliche Denken einzutauchen.“ Erschwerend kamen die Corona-Auflagen hinzu, durch die viele der Kurse und Gespräche online stattfinden mussten. Trotzdem ging sie mit Feuereifer an die Sache – und bestand alle Prüfungen. „Es ist anstrengend, aber es macht einfach wahnsinnig Spaß“, sagt sie.
„Ich will auch für mich etwas davon haben“
Für Claudia Janssen, Professorin für Neues Testament in Wuppertal, ist der berufsbegleitende Master-Kurs etwas Besonderes. „Wir merken im Kollegium, dass wir es hier mit Menschen mit akademischer Bildung und ganz viel Lebenserfahrung zu tun haben“, sagt sie. „Die kommen von den Methoden sofort zu den übergeordneten Fragen: Was kann ich damit anfangen? Was bedeutet das für den Alltag, für mein Leben?“ „Ist doch klar“, sagt Ortrun Bertelsmann. „Ich will wissenschaftlich verstehen, was da in der Bibel los ist, aber ich will doch auch für mich und meinen Glauben was davon haben.“