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Neue Realität für die Kirche

Die Lage der Kirche erinnert den sächsischen Pfarrer Justus Geilhufe an die Situation nach der Wende in Ostdeutschland: „Ich entdecke vieles, was ich damals als Jugendlicher erlebt habe, heute wieder“, sagt er. Denn er kenne nichts anderes, als der einzige in der Klasse zu sein, der zur Kirche und in den Religionsunterricht geht. Obwohl es heute noch Millionen Kirchenmitglieder gebe und die Kirchen sehr große Institutionen seien, sei die Gesellschaft schon jetzt atheistisch, also vollständig entkirchlicht, sagt er.

Für den Gemeindepfarrer, der jüngst ein Buch mit dem Titel „Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche“ veröffentlicht hat, ist eine solche Gesellschaft eine, aus der die Nächstenliebe schwinde, ebenso wie die Suche nach Wahrheit. „Wir haben heute weniger, das uns verbindet“, sagt der 33-Jährige.

Die großen Kirchen haben im vergangenen Jahr mehr Mitglieder verloren als jemals zuvor. Weniger als die Hälfte der Deutschen gehört der evangelischen oder katholischen Kirche an. Im November wird bei der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Ulm die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung vorgestellt. Seit 1972 erscheinen in regelmäßigen Abständen religionssoziologische Studien. Damals gehörten 90 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik der katholischen oder evangelischen Kirche an.

Bis 1992 wurde die Einstellung der evangelischen Kirchenmitglieder zu Kirche, Religion und politischen Themen abgefragt, dann kam nach der Wende die Gruppe der Konfessionslosen hinzu. In diesem Jahr werden auch erstmals Ergebnisse einer katholischen Mitgliederbefragung Teil der Studie sein. Es sei eine weltweit einzigartige Untersuchung und eine der umfassendsten religionssoziologischen Studien, die Vergleichswerte über lange Zeiträume anbiete, sagt der Religionssoziologe Detlef Pollack, der selbst im Wissenschaftlichen Beirat mitgewirkt hat.

Die Untersuchung beziehe sich nicht nur auf die Gründe für die Kirchenaustritte, sondern auch auf die Frage, wie stark die Kirchen in der Gesellschaft religiös verankert sind, sagt Pollack. Ziel der Studie ist es, den Kirchenleitenden Erkenntnisse und Hinweise zu liefern, wie nicht nur die eigene Klientel tickt, sondern wie auch das Bild der Kirche in der Gesellschaft ist und welche Erwartungen es gibt.

Seit Jahrzehnten sei das Ergebnis solcher Untersuchungen, dass die Kirche zum einen für ihr Engagement für die Armen und Schwachen in der Gesellschaft geschätzt werde, also für ihre karitative und diakonische Arbeit. Zum anderen werde sie geschätzt, weil sie Räume für spirituelle Bedürfnisse bereitstelle. Das werde auch von den Konfessionslosen anerkannt, sagt Pollack. Zuletzt sei die Kirche gefragt, weil sie in Übergangsphasen des Lebens für die Menschen da sei, etwa bei Geburten oder Todesfällen. Das seien im Wesentlichen die Erwartungen.

Aber die Kirche stecke in einer tiefen Vertrauenskrise, sagt Pollack. Die Missbrauchsskandale und die Art und Weise, wie die Kirchen damit umgegangen seien, habe ihnen enorm geschadet. Trotz aller Kirchenkritik sind die Einrichtungen der Kirche laut Pollack gleichwohl hochgeschätzt bei den Menschen. Oft bringt man den kirchlichen Organisationen mehr Vertrauen entgegen als den nicht-kirchlichen. Das stehe in einem gewissen Widerspruch. Den Vertrauensverlust selbst umzukehren, sei nur punktuell möglich – etwa durch Seelsorge oder eine gute Jugendarbeit.

Laut Justus Geilhufe muss die Kirche erst einmal akzeptieren, dass die Gesellschaft nichts mehr von ihr wolle. „Es gibt niemanden mehr, der darauf wartet, dass sich die EKD zu einem Thema positioniert hat“, sagt er. Um mit dem Relevanzverlust umzugehen, lohne ein Blick auf die Kirchen in der DDR. „Sie haben in einem komplett atheistischen und kirchenfeindlichen Umfeld nicht nur überlebt, sondern auch gute kirchliche Arbeit gemacht.“ Dazu müsse die Kirche sich wieder darauf besinnen, „dass sie etwas von der Wahrheit des Glaubens in dieser Welt erzählt und die Schönheit des Glaubens zelebriert“.