Von Ulrich Kastner
Das zunächst für Berlin als Plakataktion konzipierte Projekt „#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst“ ist im Laufe dieses Jahres europaweit aufgegriffen worden. Aus einer bloßen Idee wurde die bundesweite und ökumenische Kampagne, die inzwischen auch in Großbritannien und Frankreich Anklang findet.
Die antisemitischen Angriffe im Jahr 2019 forderten eine gesamtkirchliche Antwort heraus. In der ökumenisch besetzten Berliner Initiativgruppe um Marion Gardei, Maria Coors, Aline Seel, Amet Bick, Andreas Nachama, Andreas Goetze, Christian Staffa und Uwe Baumann war der Gedanke wichtig, keine Anti-, sondern eine Pro-Kampagne zu gestalten. Die Nennung der Gemeinsamkeiten der jüdischen und christlichen Feiertage sollte nicht die Unterschiede nivellieren und die blutige Geschichte ausblenden. Sondern im Fokus steht das Verbindende und die Selbstverständlichkeit, mit der wir einander anerkennen und begegnen. Als Starttemin für die Kampagne bot sich das Jahr 2021 an, das die verbürgte 1700-jährige jüdische Geschichte Deutschlands feiert und bedenkt.
Und es ist nicht bei der Plakatkampagne geblieben, sondern es wurden auch andere Formate entwickelt. Von Anfang an gehörte die Webseite dazu, auf der man vertiefende Informationen zu den Monatsthemen finden kann, sowie Links zu weiterführenden Aktionen. Auf der Seite finden sich Veranstaltungshinweise des Festjahres, es gibt religionspädagogische Unterrichtseinheiten und jüdisch-christliche Gesprächsformate an jedem dritten Dienstag („Gespräche unter Gelehrten“) und jedem zweiten Mittwoch im Monat. „die Kirche“ hat die online-Dialoge mit dem Kampagnen-Initiatoren-Team entwickelt. Einzelne Gemeinden haben die Themen der Plakate aufgegriffen und Predigtreihen dazu veranstaltet, etwa die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Und es gibt viele weitere Aktivitäten, die durch die Kampagne inspiriert wurden. Durch großzügige Spenden war es möglich, dass das aktuelle Monatsthema im Berliner U-Bahn-Fernsehen für zwei Stunden am Tag läuft.
Von der Sünde haben wir meist recht konkrete Vorstellungen. Wie aber stellen wir uns das Gegenteil vor? Wohl nicht in der Fehlerlosigkeit des Einzelnen, sondern in der Gemeinschaft, dem lebendigen Miteinander. Das Gegenteil der Sünde ist dem gemeinsamen Schalom näher, als der kalten Perfektion des Einzelnen. Die Liebe macht viele Sünden wieder gut (Sprüche 10,12). Das Gute wäre dann nicht die Vermeidung von Fehlern, sondern alles, was zum gemeinsamen Leben, zum Miteinander beiträgt.
Der Anlass für die ursprüngliche Aktion war die Zunahme der antisemitischen Übergriffe und Anschläge der letzten Jahre: Angriffe auf Menschen, die wegen ihres jüdischen Glaubens abgelehnt werden. Das betrifft zu allererst gewaltsame Angriffe. Doch das Problem beschränkt sich nicht auf solche konkreten justiziablen Taten. Sondern hier geht es auch um die scheinbar selbstverständliche Inanspruchnahme deutscher Mitbürger jüdischen Glaubens für die Außenpolitik des israelischen Staates.
Dazu ein Beispiel: Wer würde mich als evangelischen Pfarrer zum Beispiel für die Außenpolitik des vormaligen US-Präsidenten zur Rechenschaft ziehen – nur weil der sich auch als Christ versteht? Beim Staat Israel und jüdischen Berlinerinnen und Berlinern wird da nicht so klar getrennt. Insofern ist der Kampagne auch eine selbstreflexive Wirkung eingeschrieben, die eigene Vorurteile in der Kirche hinterfragt. Der Israelsonntag und das Gedenken am 9. Av sind der Zerstörung des jüdischen Tempels in Jerusalem gewidmet. Aber sie machen uns aufmerksam auf die Gefährdungen der Demokratie, des zivilen Zusammenlebens und besonders unserer jüdischen Geschwister.
Informationen zur Kampagne, Monatsplakate und Materialien unter www.juedisch-beziehungsweise-christlich.de