„Unterschätze diese Frau nicht“, sagte mir Besucher eines Obdachlosentreffs in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg. „Die kann was und kommt immer zu uns auf den Bahnhof.“ Ja, die Ärztin Jenny De la Torre war eine Erscheinung. Äußerlich eher unauffällig, aber wenn sie sprach, war sie voller Energie und Leidenschaft. Sie hatte einen klaren Blick dafür, was die Ärmsten in der Stadt brauchen. Sie leben zwar oft mittendrin, sind aber von den Anderen durch eine unsichtbare Mauer getrennt und oft gefangen in einer Sucht.
Jenny De la Torre durchbrach die Isolation Obdachloser
Jenny De la Torre hat es als Ärztin geschafft, diese Isolation Obdachloser zu durchbrechen. Lange arbeitete sie als Armenärztin beim Projekt „Mut“ am Hauptbahnhof. Sie schaffte es, dass ihr Menschen vertrauten und sich auch behandeln ließen. Dabei überwand sie die Grenzen von Scham bei den Patienten durch eine Medizin auf der Straße, die auch unter Medizinerinnen nur sehr wenige praktizierten.
Als ihre Stelle gekürzt werden sollte, stieg sie aus. Denn sie kämpfte für mehr Solidarität, konkrete Hilfe und Mitgefühl mit den Ärmsten. Leidenschaftlich rang sie für die Idee, eine niederschwellige Praxis für Obdachlose zu verwirklichen. Zunächst überzeugte sie den Berliner Bezirk Mitte, ihr dafür Räume einer ehemaligen Kita zur Verfügung zu stellen. Ihre Botschaft kam an. Viele Unterstützerinnen und Unterstützer brachte sie zusammen. Andere Fachärzte bieten bis heute Sprechstunden für Obdachlose an, Friseure schnitten unentgeltlich Haare und Suchtberatung wurde möglich. Bei aller Lobbyarbeit für Menschen auf der Straße blieb ihr Fokus auf die einzelnen Menschen gerichtet.
Jenny De la Torres Ziel war eine gerechtere Gesellschaft
Jenny De la Torre wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Die Preisgelder bildeten den Grundstock ihrer Stiftung. Sponsoren halfen, dass die Stiftung ein Gesundheitszentrum für alle, auch ohne Krankenkarte, in der Pflugstr. 12 offenhält. Aber ihre Botschaft richtete sich an die ganze Gesellschaft. Sie schrieb: „Wir können nur eine
gerechtere Gesellschaft aufbauen, indem wir sie menschlicher gestalten. Das wird nur möglich, wenn wir in diesem Sinne etwas verändern. Kein Paradies, aber eine Welt, in der jeder Mensch das Gefühl hat, ein Mensch zu sein.“
Jenny De la Torre agierte energisch und leidenschaftlich
Ich selber durfte sie im Rahmen des Aufbaus der medizinischen Versorgung in der Kältehilfe in Berlin erleben. Energisch und ganz bei der Sache verfolgte sie ihre Ziele. Interessiert an den Menschen war sie immer.
Jenny De la Torre war Kosmopolitin. Ursprünglich wollte sie eine Armenmedizin in ihrem Heimatland Peru aufbauen. Nach zwei vergeblichen Versuchen dort landete sie am Hauptbahnhof. Wie gut, dass sie unter uns war. Nun ist sie mit 71 Jahren gestorben und wird am 25. Juni um 11 Uhr auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof II an der Liesenstraße 9 beigesetzt. Für uns Zurückbleibende ist ihre Arbeit ein Leuchtturm der Menschlichkeit, die uns Mut macht, dass auch Unmögliches möglich werden kann.
Peter Storck ist Pfarrer im Kirchenkreis Berlin Stadtmitte und arbeitet mit obdachlosen Menschen.