Artikel teilen:

Militärsoziologe Graf: Deutschland ist verwundbar

Jahrzehntelang hat die deutsche Gesellschaft im Frieden gelebt und das Verständnis für Entbehrungen, Schmerz und Leid verloren, so Militärsoziologe Timo Graf.

Timo Graf ist Soziologe vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften
Timo Graf ist Soziologe vom Zentrum für Militärgeschichte und SozialwissenschaftenBundeswehr

Der Militärsoziologe Timo Graf sieht Deutschland nur unzureichend auf einen möglichen Konflikt mit Russland vorbereitet. Die deutsche Gesellschaft habe jahrzehntelang im Frieden gelebt und jedes tatsächliche Verständnis für die Entbehrungen, den Schmerz und das Leid verloren, die mit einem Krieg einhergehen, sagte der Wissenschaftler vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Während laut Umfragen 65 Prozent der Deutschen Russland als Bedrohung wahrnähmen, fehle es einem Drittel an Bewusstsein für die geopolitische Realität. Besonders problematisch sei der wachsende Zuspruch für Parteien, die eine Annäherung an Russland fordern und sich gegen eine militärische Stärkung Deutschlands aussprechen, sagte der Wissenschaftler vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften: „Die Zerfaserung unseres politischen Spektrums und das Erstarken radikaler Parteien macht uns von innen und außen verwundbarer.“

Pazifisten in Deutschland sind keine Mehrheit

Ein weiteres Risiko sieht der Experte in der gesellschaftlichen Reaktion auf mögliche militärische Maßnahmen. Sollte die Bundeswehr größere Truppenbewegungen durchführen, müsse mit Protesten gerechnet werden. Externe Akteure könnten diese Situation ausnutzen. „Wir können es uns schlicht nicht mehr leisten, dass beispielsweise Jugendoffiziere an Schulen ihrem Informationsauftrag nicht nachkommen können, weil sich Lehrerverbände dagegen wehren“, sagte er.

Zugleich betonte Graf, dass die Deutschen mehrheitlich keine Pazifisten seien: 60 Prozent der Bevölkerung sprächen sich mittlerweile für höhere Verteidigungsausgaben aus, 80 Prozent hätten eine positive Meinung über die Bundeswehr. Auch die Akzeptanz militärischer Gewalt zur Landes- und Bündnisverteidigung sei gestiegen: Insbesondere unter Männern sei die Bereitschaft, im Verteidigungsfall zu den Waffen zu greifen, hoch.

Militärsoziologe Graf: Wunschdenken ablegen

Das Narrativ einer mehrheitlich pazifistischen Gesellschaft sei nicht nur empirisch falsch, sondern auch gefährlich. Viele Verantwortungsträger träfen ihre Entscheidungen auf Basis dieser Annahme. In der Vergangenheit führte das zu einer fatalen Politik der Selbstabschreckung, sagte Graf: „Es gilt, das Wunschdenken abzulegen. Wir können nur noch den ‘Worst-Case’ planen.“