Eine Angst geht um in Europa: Wir verlieren die Kontrolle. Vor unseren Grenzen drängen sich Massen von Flüchtlingen. Sobald wir die Tore öffnen, werden wir überrannt – und dann?
Ja, was dann? Einen Plan hat offenbar niemand, obwohl europäische Politikerinnen und Politiker seit über fünf Jahren wissen, dass Menschen in großen Zahlen die Krisengebiete im Nahen und Mittleren Osten und Afrika verlassen und sich auf der Suche nach Sicherheit und mehr Wohlstand in Richtung Europa aufmachen. Statt darum zu ringen, wie diese Flüchtlinge verteilt werden können, hat man das Problem einigen wenigen Ländern überlassen, die zufällig diesseits und jenseits der Grenze der EU liegen. Hier ist es durch die Auffanglager, in denen Menschen unter unwürdigen Bedingungen zusammengepfercht werden, nur immer größer und unkontrollierbarer geworden.
Die Stimmen der Mahner – unter ihnen immer wieder auch die Kirchen – wurden bewusst überhört. Jetzt benutzt der türkische Staatschef Erdogan die Flüchtlinge auf zynische Art als Faustpfand – und die europäischen Staaten stehen genauso planlos da wie vor fünf Jahren.
Dabei hat die Krise von 2015 doch gezeigt: Das wohlhabende und gut organisierte Europa hatte keine Probleme damit, einige Hunderttausend Menschen aufzunehmen, zu versorgen, viele von ihnen für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren und zu integrieren. Diese Erfahrung hätte dazu führen müssen, dass wir selbstbewusst und optimistisch an die nächste Herausforderung herangehen. Stattdessen wächst die Angst vor dem Kontrollverlust, bewusst geschürt von den Strategen einer menschenverachtenden rechtsextremen Ideologie.
Sicher, Politiker müssen strategisch denken; sie müssen häufig ein Stück von dem abrücken, was sie für richtig halten und Kompromisse finden, um auch die Unwilligen mitzunehmen. Das haben aufnahmebereite Staaten wie Deutschland, Frankreich und andere in der EU versucht. Aber was, wenn Argumente nicht helfen gegen stumpfen Nationalismus, gegen Fremdenfeindlichkeit und Panikmache? Dürfen sich die Willigen dann von den Unwilligen erpressen lassen und ebenfalls auf eine menschliche Flüchtlingspolitik verzichten?
Mitmenschlichkeit, Solidarität mit den Benachteiligten, Barmherzigkeit mit den Leidenden – all das sind Werte, die eine Gemeinschaft menschlich machen. In der Sprache des jüdisch-christlichen Glaubens ausgedrückt: Es sind Gottes Gebote für ein Zusammenleben nach seinem Willen. Mag sein, dass das kein Argument im knallharten Ringen um Macht und Wirtschaftsanteile ist. Aber diese Werte, diese Gebote sind letztlich das, was gutes, gerechtes, würdevolles Leben ausmacht.
Darum dürfen wir die Kontrolle nicht verlieren – die Kontrolle über unseren Zynismus, unseren Egoismus, unsere Bequemlichkeit. Wir müssen aufstehen gegen die derzeitige Flüchtlingspolitik. Wir müssen die Verfolgten aufnehmen und ihnen ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen.