Artikel teilen:

Lebenslohn statt Mindestlohn

Der Politologe Christoph Butterwegge sieht eine fortschreitende Spaltung der Gesellschaft. Nötig ist seiner Meinung nach eine Umverteilung von oben nach unten

Die Abkoppelung vom sozialen Leben durch Armut muss laut dem Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge genauso ernst genommen werden wie „absolute Armut“. Die von der Politik auf den Weg gebrachten Maßnahmen wie die Grundsicherung reichten bei Weitem nicht aus, sagte der Armutsforscher in einem Gespräch mit Holger Spierig. Butterwegge kritisierte auch eine „Meinungsführerschaft des Neoliberalismus“, nach dem der Leistung von Spitzenmanagern mehr Wert beigemessen werde als der von Krankenschwestern oder Altenpflegern. Die Spaltung der Gesellschaft wird nach Ansicht des Wissenschaftlers durch populistische Parteien wie die AfD noch verschärft.

Sie warnen in Ihrem neuen Buch „Die zerrissene Republik“ vor einer Spaltung der Gesellschaft in Deutschland in Arme auf der einen und Reiche auf der anderen Seite. Wann ist man in Deutschland nach Ihrer Auffassung arm?
In einem wohlhabenden, wenn nicht reichen Land wie der Bundesrepublik müssen nicht bloß Obdachlose, total verelendete Drogenabhängige und illegalisierte Migranten als arm gelten. Arm ist auch, wer zwar seine Grundbe-dürfnisse befriedigen, sich aber vieles von dem nicht leisten kann, was hierzulande für die meisten Bewohner normal ist: Er kann nicht am sozialen, kulturellen und politischen Leben teilnehmen. Ich finde, dass man relative Armut, die bei uns meist verharmlost, relativiert und beschönigt wird, genauso ernst nehmen muss wie absolute Armut. Wenn ein Jugendlicher im tiefsten Winter, bekleidet mit einem T-Shirt und Sandalen, auf einem Schulhof steht und von den Klassenkameraden und Klassenkameradinnen ausgelacht wird, dann ist das vermutlich viel schlimmer für ihn, als die Kälte zu spüren.

Was hat das für Folgen für ausgegrenzte Menschen?
In einer reichen Gesellschaft werden die Armen für ihre soziale Misere selbst verantwortlich gemacht. Nach einiger Zeit übernehmen sie diese Schuldzu-weisung, halten sich selbst für Versager und trauen sich nicht mehr aus der Wohnung – was sie sich auch finanziell kaum leisten können, schämen sich und resignieren häufig. Hartz-IV-Bezieher sind zu einem viel höheren Anteil gesundheitlich und psychosozial beeinträchtigt als die Normalbevölkerung  – das hat mit diesem Mechanismus zu tun.

Was sind denn Ihrer Erkenntnis nach die Ursachen dafür, dass in einem wohlhabenden Land wie Deutschland immer mehr Menschen von Armut und damit von Ausgrenzung bedroht sind?
Armut und Reichtum hängen strukturell zusammen, sind also zwei Seiten einer Medaille. Wenn durch den stärkeren Einfluss mächtiger Interessengruppen auf die Regierungspolitik eine immer ungleichere und ungerechtere Verteilung des Bruttoinlandsprodukts erfolgt, werden die Reichen reicher und die Armen zahlreicher. Ich führe das auf die Meinungsführerschaft des Neoliberalismus in unserer Gesellschaft zurück, der Leistung am ökonomischen Erfolg misst.
Demnach leisten nicht die Erzieherin, die Krankenschwester oder der Alten-pfleger viel, sondern der Spitzenmanager oder wer zum Beispiel an der Börse auf die richtigen Aktien gesetzt hat.

Auch populistische Parteien kritisieren eine ungerechte Verteilung des Reichtums und soziale Benachteiligungen. Haben diese Alternativen für eine gerechtere Verteilung anzubieten?
Nein, ganz im Gegenteil. Wenn die AfD eine Achillesferse hat, dann ist es die Sozial- und Rentenpolitik. Statt eines überzeugenden Konzepts hat diese Partei mehr als ein halbes Dutzend sich widersprechende Papiere zu einer Renten-reform. Man gibt zwar vor, die „Partei der kleinen Leute“ zu sein, wie AfD-Ehrenvorsitzender Alexander Gauland sagt. Die AfD ist aber nicht bloß hinsichtlich der dunklen Finanzierungsquellen im Ausland und dubioser Spenden eine Partei des großen Geldes.

Wieso feiert die AfD dann so große Wahlerfolge wie zuletzt gleich bei drei ostdeutschen Landtagswahlen?
Rechtspopulisten leben davon, dass sich die Gesellschaft spaltet, weil gerade in der Mittelschicht die Ängste vor dem sozialen Abstieg zunehmen. Angst führt zu irrationalen Reaktionen, weshalb sich viele Kleinbürger in ökonomischen Krisen und gesellschaftlichen Umbruchsituationen politisch nach rechts wenden.
Das hat in Deutschland schon Tradition: In der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre war der Aufstieg der NS-Bewegung zu beobachten. Während der ersten Wirtschaftskrise der alten Bundesrepublik 1966/67 zog die NPD in sieben Landtage ein und wäre fast, 1969, in den Bundestag eingezogen. Heute profitiert die AfD von einer tiefen Verunsicherung in der Gesellschaft, die durch wachsende soziale Ungleichheit ausgelöst wird.

Gilt dieser Mechanismus auch für die so genannte Flüchtlingskrise?
Das, was „Flüchtlingskrise“ genannt wird, ist ja im Grunde ein Kampf derjenigen, die fürchten, arm zu werden, gegen diejenigen, die noch ärmer sind. Man will sich auf Kosten der Flüchtlinge abschotten und die eigenen sozialen Besitzstände sichern.
Das ist aber der falsche Weg. Denn es sind nicht die Flüchtlinge, die Einheimische arm machen, sondern diejenigen, die ungleiche Verteilungsverhältnisse schaffen, weil sie davon profitieren. Man müsste sich also gegen die einheimischen Hyperreichen wenden, aber das wäre natürlich viel schwerer, weil sie mächtig sind.

Ist die von der Großen Koalition geplante Grundrente ein Schritt in die richtige Richtung?
Ja, aber nur ein Trippelschritt. Zwar erkennt die Bundesregierung damit an, dass sich Arbeit auch für diejenigen Ruheständlerinnen und Ruheständler lohnen muss, deren Lohn für eine armutsfeste Rente selbst nach 35 Jahren der Beitragszahlung, der Kindererziehung und/oder der Pflege von Angehörigen nicht ausreicht.
Etwa 1,2 bis 1,5 Millionen Kleinstrentnerinnen und -rentner sollen nunmehr vom 1. Januar 2021 an im Durchschnitt etwa 80 Euro im Monat zusätzlich erhalten. Bundesdurchschnittlich kommen insgesamt auch nur 890 Euro monatlich heraus. Damit ermöglicht man Senioren weder ein Leben in Würde, noch lässt sich Altersarmut so wirksam bekämpfen.

Was müsste denn Ihrer Meinung nach politisch getan werden, um eine zunehmende gesellschaftliche Spaltung zu verhindern?
Zuerst müsste der gesetzliche Mindestlohn erhöht und zu einem „Lebenslohn“ fortentwickelt werden, der dafür zu sorgen hätte, dass der expandierende Niedriglohnbereich wieder eingedämmt wird. Außerdem sollte eine Umver-teilung von oben nach unten erfolgen, etwa durch die Wiedererhebung der Vermögensteuer. Es gibt eine Fülle weiterer steuerpolitischer Möglichkeiten. Armutsbekämpfung ist aber eine sehr komplexe Angelegenheit, weshalb man an ganz vielen Stellschrauben drehen muss. Klar ist jedoch, dass Reichtums-förderung keine Form der Armutsbekämpfung darstellt.