Argentinien, Polen, Deutschland: Die Vergangenheit zeigt, dass religiöse Gruppen immer wieder in Revolutionen involviert sind. Constance Bürger sprach mit Professor Detlef Pollack, Religionssoziologe an der Universität Münster, über den Einfluss von Religionen auf gesellschaftliche Umbrüche und ob die Kirche heutzutage selbst eine Revolution braucht.
Herr Pollack, welche Funktion hat Religion, wenn es zu gesellschaftlichen Umbrüchen kommt? Zunächst muss man sagen, dass Religionen multifunktionale Institutionen sind, die ganz verschieden wirken können. Sie können gesellschaftliche Veränderungen – beschleunigte Formen des Wandels – aufhalten, aber auch antreiben. Wir sehen das in der Geschichte sehr häufig, dass Religion in Revolutionen involviert ist. Aber wenn es darum geht, Veränderungen zu verhindern, können Religionen und Kirchen eine bedeutsame Rolle spielen. Und wie kann Religion konkret Revolutionen vorantreiben? Religionen und Formen des Glaubens halten Reflexionsmöglichkeiten bereit: Wir können das alltäglich Erlebte und das, was wir für selbstverständlich halten, noch einmal in ein anderes Licht rücken. Religionen sind Medien zur Artikulation von Unzufriedenheit, Hoffnung, Protest und können insofern revolutionäres Handeln motivieren. Tatsächlich gibt es einen beachtenswerten Zusammenhang zwischen Religiosität und der Involvierung in revolutionäre Umbrüche. In den sich weltweit vollziehenden Prozessen der Demokratisierung in den Jahrzehnten zwischen 1970 und 2010 kam religiösen Akteuren vielfach eine zentrale Bedeutung zu. Forscher haben ausgerechnet, dass in den 78 Ländern, die zwischen 1972 und 2009 eine substanzielle Demokratisierung durchliefen, in 48 Fällen religiöse Akteure entweder eine unterstützende oder führende Rolle spielten. Vielfach haben religiöse Gemeinschaften und Bewegungen Prozesse der Demokratisierung aber auch behindert.
An welche Ereignisse in der Geschichte denken Sie?
In Argentinien zum Beispiel pflegte die katholische Kirche eine sehr enge Beziehung zum alten Militärregime (1976–1983). Kirche war ein Machtfaktor, eine Legitimation für die damaligen politischen Eliten. Sie hat dazu beigetragen, die brutalen Herrschaftsverhältnisse stabil zu halten und Veränderungen zu verhindern.
Auf welche Weise haben religiöse Gruppen Demokratisierungs – prozesse beschleunigen können? Denken Sie an Polen. Dort spielte die katholische Kirche eine zentrale Rolle für den Zusammenbruch des kommunistischen Regimes. Bei seinen Besuchen in Polen hat Papst Johannes Paul II. nicht etwa zum Umsturz aufgerufen. Er hat etwas anderes getan. Er stellte eine Verbindung zwischen Humanität und christlichem Glauben her, indem er erklärte, der Humanismus habe seine Wurzeln im Christentum und auch Polen sei immer ein christliches Land gewesen. Daraufhin rief er den Menschen zu: „Macht die Tore weit für Christus“. Jeder hat diesen Ruf verstanden als Aufforderung, zu den verloren gegangenen religiösen Wurzeln zurückzukehren und das atheistische Regime zu überwinden. Die religiöse Sprache reichte aus, um diese politische Botschaft zu überbringen.
Wie bewerten Sie den Einfluss der kirchlichen Gruppen in der ehemaligen DDR? Auch in der DDR benutzten die Friedens-, Gerechtigkeits- und Frauengruppen religiöse Symbole, um politisch etwas zu bewegen. Sie sagten „Schwerter zu Pflugscharen“ und kritisierten damit die Politik der Aufrüstung. Sie stellten sich mit einer Kerze vor die Kirche und setzten damit in der politisch aufgeheizten Situation ein politisches Zeichen. Spielte Kirche die entscheidende Rolle für den Umbruch in der DDR? Man sollte ihre Rolle nicht überschätzen. Die Kirchen haben einen Schutzraum gegeben für die Oppositionsgruppen, für das freie Wort und den offenen Dialog. Aber sie waren nicht der entscheidende Impulsgeber für die Friedliche Revolution – auch wenn viele Demonstrationen von den Kirchen ausgegangen sind. Entscheidend war, dass Gorbatschow die Repressionen lockerte und sich die politischen Gelegenheitsstrukturen erweiterten. Und wichtig war, dass die Menschen die Veränderungen wollten und dafür auf die Straße gegangen sind. Die Kirche wirkte als Vermittlungsinstanz: Sie war Mediator zwischen Bevölkerung und Parteiführung und Kristallisationspunkt der Proteste, aber nicht deren Initiator. Aber haben die Kirchen nicht dazu beigetragen, dass die Proteste friedlich verliefen? In den Friedensgebeten haben die Kirchen zur Friedfertigkeit aufgerufen. In den Kirchen aber gab es eine andere Kommunikationssituation als außerhalb, wo die Menschen teilweise Polizeikräften gegenüberstanden. Dort war es ein Gebot der Vernunft, Ruhe zu bewahren. Angesichts der Übermacht der Polizeikräfte wäre es töricht gewesen, sich aggressiv zu verhalten. Man musste ja auch zeigen, dass man nicht ein gewaltbereiter Feind des Systems war. Die Friedfertigkeit der Demonstrationen ist in meinen Augen insofern eher ein Ausdruck zweckrationaler Taktik als eine Wirkung des Evangeliums. Kommen wir zur heutigen Situation: Die Mitgliederzahlen sinken, die Kirchen bleiben leer. Braucht die Kirche eine Revolution? Vielleicht, aber ich halte eine kirchliche Revolution in unseren Breitengraden für hoch unwahrscheinlich. Natürlich gab es Revolutionen in der Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) zum Beispiel. Die Reformation könnte man auch als solche bezeichnen. Aber wir leben heute nicht in einer Zeit, in der wir den Prozess der kirchlichen Miniorisierung dadurch aufhalten könnten, dass wir die Kirche radikal umgestalten. Da müsste jemand genau wissen, was man tun müsste, damit die Menschen wieder in die Kirchen kommen. Umfragen zeigen, dass die Sehnsucht nach einem Sinn im Leben – eine der zentralsten Inhalte des Evangeliums – für viele nicht mehr wirklich eine Rolle spielt. Warum? Die Frage nach dem Sinn des Lebens – was unser Leben ausmacht und was nach dem Leben kommt – hat sicherlich seinen Platz im Gefüge der individuellen Lebensführung. Die Frage nach dem Sinn ist aber oft nicht so zentral, wie sich das die Handelnden der Kirche wünschen. Die moderne Gesellschaft hält so viele Aktivitätsund Verwirklichungsmöglichkeiten bereit – von der individuellen Freizeitgestaltung bis zur persönlichen Erfüllung im Beruf –, dass man nicht immer darüber nachdenken muss, was der Sinn des Lebens ist. Das Leben wird von diesen Aktivitäten aufgesaugt. Die Kirche oder auch die Frage nach dem Sinn des Lebens sind da oft nicht so wichtig. Wie blicken Sie in die Zukunft? Ich sehe nicht, dass wir kurz davor stehen, dass die Prozesse der Entkirchlichung zum Stillstand kommen. Wenn man sich die Faktoren zur Messung von Kirchlichkeit und Religiosität anschaut – Glaube an Gott, Zahl der Kirchgänge bis hin zur öffentlichen Reputation von Kirche – deutet alles auf einen langsamen Auszehrungsprozess hin. Ich finde es ausgesprochen schwer, in dieser Situation Hoffnung und Mut zu bewahren: Die Aussicht auf eine radikalen Umkehr besteht nicht. Zur Umkehr werden wir zwar immer wieder theologisch aufgerufen. Dieser Ruf zur Umkehr wird heute jedoch nur von wenigen Menschen in den west- und mitteleuropäischen Gesellschaften gehört. Viele von ihnen sind in ihre beruflichen und familiären Zusammenhänge, in ihre Freizeitaktivitäten, in die Pflege von Bekanntschaften, die Sorge um das alltägliche Leben vollständig eingebunden. Umkehr würde bedeuten, aus all diesen Zusammenhängen auszusteigen. Das wollen die meisten nicht, und das könnten sie wohl auch nicht.